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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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zuerst entwickelt hat. Die Arbeit, die durch den Rhythmus erleichtert, weil ple_093.002
"mechanisiert" wird, bedurfte zur Regulierung des Bewegungsrhythmus der ple_093.003
menschlichen Stimme, des primitiven Chorgesangs, aus dem Musik und ple_093.004
Dichtung in weiterer Entwicklung hervorgegangen sind. Damit gelangt ple_093.005
Bücher zu dem Schluß, daß ursprünglich "Arbeit, Musik und Dichtung ple_093.006
in eins verschmolzen gewesen sein müssen, daß aber das Grundelement ple_093.007
dieser Dreieinheit die Arbeit gebildet hat" (S. 348). So entscheidend ist ple_093.008
ihm dieser unmittelbare Zusammenhang, daß ihm selbst der Tanz in seiner ple_093.009
Verbindung erst als eine Nachahmung oder Übertragung der Arbeitsbewegung ple_093.010
zu sein scheint, während man bisher geneigt war, in der Verbindung von ple_093.011
Reigen und Chorlied die primitive Form der Dichtung zu sehen.1) Und ple_093.012
in der Tat dürfte es nicht möglich sein, den Ursprung des Tanzes aus der ple_093.013
Arbeitsbewegung nachzuweisen. Vielmehr ist es wahrscheinlich, daß der ple_093.014
Marschbewegung und dem Reigen eine ebenso ursprüngliche und schöpferische ple_093.015
Bedeutung zukommt wie der Arbeit, und K. Bruchmann2) vermutet ple_093.016
sehr annehmbar: "Der Rhythmus, weil in der menschlichen Organisation ple_093.017
begründet, hat sich bei zwei Tätigkeiten herausgebildet, aus Arbeit und ple_093.018
aus Tanz."

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Wie dem nun auch sein mag, ob der Rhythmus aus der Arbeit, dem ple_093.020
Tanz oder aus beiden hervorgegangen ist, oder ob noch andere Faktoren ple_093.021
an seiner Ausbildung beteiligt waren: an die Sprache ist er von außen ple_093.022
herangetreten und nicht aus ihrem inneren Wesen hervorgewachsen; er ist ple_093.023
der Rede an sich ein fremdes Element. Daher folgt auch seine Entwicklung ple_093.024
ihren eigenen Gesetzen und bildet mithin für die wissenschaftliche ple_093.025
Forschung ein eigenes Gebiet, die Metrik. Auch in diesem Werke ist ple_093.026
demselben eine besondere Abteilung zugewiesen, und meine Aufgabe kann ple_093.027
es nicht sein, die dort erreichten Ergebnisse noch einmal zu erörtern. ple_093.028
Wohl aber hat die Poetik die Frage zu beantworten, wie weit sich, trotz ple_093.029
der selbständigen Entwicklung der metrischen Form ein innerer Zusammenhang ple_093.030
zwischen ihr und dem inhaltlichen Wesen der Dichtung feststellen ple_093.031
läßt, und welches die Gesetze dieses Zusammenhanges sind. Dies soll ple_093.032
denn im folgenden geschehen. --

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Der dichterische Rhythmus also ist der Sprache ursprünglich wesensfremd, ple_093.034
er bindet sie im eigentlichen Sinne des Worts, an Formen nämlich, ple_093.035
die nicht ihre eigenen sind. So erklärt sich die Tatsache, daß die älteste ple_093.036
Poesie, von der wir wissen, einen organischen Zusammenhang zwischen ple_093.037
der metrischen Form einer Dichtung und ihrem Inhalt nicht kennt. Nur ple_093.038
ein Gesetz allgemeiner Art läßt sich hier aufstellen, das, soviel wir sehen,

1) ple_093.039
So auch W. Wundt, Völkerpsychologie I S. 269 ff. Nach ihm ist "das Tanzlied ple_093.040
die aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglichste Form des Gesanges. Aus dem Tanzlied ple_093.041
sind, wie wir annehmen dürfen, als die zwei nächsten Formen menschlicher Gesangsrhythmik ple_093.042
in divergierender Entwicklung die Arbeits- und Kultgesänge hervorgegangen".
2) ple_093.043
K. Bruchmann, Poetik. Naturlehre der Dichtung. Berlin 1898. S. 31.

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zuerst entwickelt hat. Die Arbeit, die durch den Rhythmus erleichtert, weil ple_093.002
„mechanisiert“ wird, bedurfte zur Regulierung des Bewegungsrhythmus der ple_093.003
menschlichen Stimme, des primitiven Chorgesangs, aus dem Musik und ple_093.004
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Bücher zu dem Schluß, daß ursprünglich „Arbeit, Musik und Dichtung ple_093.006
in eins verschmolzen gewesen sein müssen, daß aber das Grundelement ple_093.007
dieser Dreieinheit die Arbeit gebildet hat“ (S. 348). So entscheidend ist ple_093.008
ihm dieser unmittelbare Zusammenhang, daß ihm selbst der Tanz in seiner ple_093.009
Verbindung erst als eine Nachahmung oder Übertragung der Arbeitsbewegung ple_093.010
zu sein scheint, während man bisher geneigt war, in der Verbindung von ple_093.011
Reigen und Chorlied die primitive Form der Dichtung zu sehen.1) Und ple_093.012
in der Tat dürfte es nicht möglich sein, den Ursprung des Tanzes aus der ple_093.013
Arbeitsbewegung nachzuweisen. Vielmehr ist es wahrscheinlich, daß der ple_093.014
Marschbewegung und dem Reigen eine ebenso ursprüngliche und schöpferische ple_093.015
Bedeutung zukommt wie der Arbeit, und K. Bruchmann2) vermutet ple_093.016
sehr annehmbar: „Der Rhythmus, weil in der menschlichen Organisation ple_093.017
begründet, hat sich bei zwei Tätigkeiten herausgebildet, aus Arbeit und ple_093.018
aus Tanz.“

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Wie dem nun auch sein mag, ob der Rhythmus aus der Arbeit, dem ple_093.020
Tanz oder aus beiden hervorgegangen ist, oder ob noch andere Faktoren ple_093.021
an seiner Ausbildung beteiligt waren: an die Sprache ist er von außen ple_093.022
herangetreten und nicht aus ihrem inneren Wesen hervorgewachsen; er ist ple_093.023
der Rede an sich ein fremdes Element. Daher folgt auch seine Entwicklung ple_093.024
ihren eigenen Gesetzen und bildet mithin für die wissenschaftliche ple_093.025
Forschung ein eigenes Gebiet, die Metrik. Auch in diesem Werke ist ple_093.026
demselben eine besondere Abteilung zugewiesen, und meine Aufgabe kann ple_093.027
es nicht sein, die dort erreichten Ergebnisse noch einmal zu erörtern. ple_093.028
Wohl aber hat die Poetik die Frage zu beantworten, wie weit sich, trotz ple_093.029
der selbständigen Entwicklung der metrischen Form ein innerer Zusammenhang ple_093.030
zwischen ihr und dem inhaltlichen Wesen der Dichtung feststellen ple_093.031
läßt, und welches die Gesetze dieses Zusammenhanges sind. Dies soll ple_093.032
denn im folgenden geschehen. —

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Der dichterische Rhythmus also ist der Sprache ursprünglich wesensfremd, ple_093.034
er bindet sie im eigentlichen Sinne des Worts, an Formen nämlich, ple_093.035
die nicht ihre eigenen sind. So erklärt sich die Tatsache, daß die älteste ple_093.036
Poesie, von der wir wissen, einen organischen Zusammenhang zwischen ple_093.037
der metrischen Form einer Dichtung und ihrem Inhalt nicht kennt. Nur ple_093.038
ein Gesetz allgemeiner Art läßt sich hier aufstellen, das, soviel wir sehen,

1) ple_093.039
So auch W. Wundt, Völkerpsychologie I S. 269 ff. Nach ihm ist „das Tanzlied ple_093.040
die aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglichste Form des Gesanges. Aus dem Tanzlied ple_093.041
sind, wie wir annehmen dürfen, als die zwei nächsten Formen menschlicher Gesangsrhythmik ple_093.042
in divergierender Entwicklung die Arbeits- und Kultgesänge hervorgegangen“.
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K. Bruchmann, Poetik. Naturlehre der Dichtung. Berlin 1898. S. 31.
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[93/0107] ple_093.001 zuerst entwickelt hat. Die Arbeit, die durch den Rhythmus erleichtert, weil ple_093.002 „mechanisiert“ wird, bedurfte zur Regulierung des Bewegungsrhythmus der ple_093.003 menschlichen Stimme, des primitiven Chorgesangs, aus dem Musik und ple_093.004 Dichtung in weiterer Entwicklung hervorgegangen sind. Damit gelangt ple_093.005 Bücher zu dem Schluß, daß ursprünglich „Arbeit, Musik und Dichtung ple_093.006 in eins verschmolzen gewesen sein müssen, daß aber das Grundelement ple_093.007 dieser Dreieinheit die Arbeit gebildet hat“ (S. 348). So entscheidend ist ple_093.008 ihm dieser unmittelbare Zusammenhang, daß ihm selbst der Tanz in seiner ple_093.009 Verbindung erst als eine Nachahmung oder Übertragung der Arbeitsbewegung ple_093.010 zu sein scheint, während man bisher geneigt war, in der Verbindung von ple_093.011 Reigen und Chorlied die primitive Form der Dichtung zu sehen. 1) Und ple_093.012 in der Tat dürfte es nicht möglich sein, den Ursprung des Tanzes aus der ple_093.013 Arbeitsbewegung nachzuweisen. Vielmehr ist es wahrscheinlich, daß der ple_093.014 Marschbewegung und dem Reigen eine ebenso ursprüngliche und schöpferische ple_093.015 Bedeutung zukommt wie der Arbeit, und K. Bruchmann 2) vermutet ple_093.016 sehr annehmbar: „Der Rhythmus, weil in der menschlichen Organisation ple_093.017 begründet, hat sich bei zwei Tätigkeiten herausgebildet, aus Arbeit und ple_093.018 aus Tanz.“ ple_093.019 Wie dem nun auch sein mag, ob der Rhythmus aus der Arbeit, dem ple_093.020 Tanz oder aus beiden hervorgegangen ist, oder ob noch andere Faktoren ple_093.021 an seiner Ausbildung beteiligt waren: an die Sprache ist er von außen ple_093.022 herangetreten und nicht aus ihrem inneren Wesen hervorgewachsen; er ist ple_093.023 der Rede an sich ein fremdes Element. Daher folgt auch seine Entwicklung ple_093.024 ihren eigenen Gesetzen und bildet mithin für die wissenschaftliche ple_093.025 Forschung ein eigenes Gebiet, die Metrik. Auch in diesem Werke ist ple_093.026 demselben eine besondere Abteilung zugewiesen, und meine Aufgabe kann ple_093.027 es nicht sein, die dort erreichten Ergebnisse noch einmal zu erörtern. ple_093.028 Wohl aber hat die Poetik die Frage zu beantworten, wie weit sich, trotz ple_093.029 der selbständigen Entwicklung der metrischen Form ein innerer Zusammenhang ple_093.030 zwischen ihr und dem inhaltlichen Wesen der Dichtung feststellen ple_093.031 läßt, und welches die Gesetze dieses Zusammenhanges sind. Dies soll ple_093.032 denn im folgenden geschehen. — ple_093.033 Der dichterische Rhythmus also ist der Sprache ursprünglich wesensfremd, ple_093.034 er bindet sie im eigentlichen Sinne des Worts, an Formen nämlich, ple_093.035 die nicht ihre eigenen sind. So erklärt sich die Tatsache, daß die älteste ple_093.036 Poesie, von der wir wissen, einen organischen Zusammenhang zwischen ple_093.037 der metrischen Form einer Dichtung und ihrem Inhalt nicht kennt. Nur ple_093.038 ein Gesetz allgemeiner Art läßt sich hier aufstellen, das, soviel wir sehen, 1) ple_093.039 So auch W. Wundt, Völkerpsychologie I S. 269 ff. Nach ihm ist „das Tanzlied ple_093.040 die aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglichste Form des Gesanges. Aus dem Tanzlied ple_093.041 sind, wie wir annehmen dürfen, als die zwei nächsten Formen menschlicher Gesangsrhythmik ple_093.042 in divergierender Entwicklung die Arbeits- und Kultgesänge hervorgegangen“. 2) ple_093.043 K. Bruchmann, Poetik. Naturlehre der Dichtung. Berlin 1898. S. 31.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/107>, abgerufen am 22.11.2024.