Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_095.001 ple_095.012 ple_095.016 ple_095.036 ple_095.041 ple_095.001 ple_095.012 ple_095.016 ple_095.036 ple_095.041 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0109" n="95"/> <p><lb n="ple_095.001"/> Sehen wir nun aber von diesen Gesetzen der Vers- und Redescheidung <lb n="ple_095.002"/> ab, so fehlt der älteren Dichtung und insbesondere der Volkspoesie das <lb n="ple_095.003"/> Gefühl für den inneren Zusammenhang der Form mit dem dargestellten <lb n="ple_095.004"/> Inhalt durchaus. Das Volksepos zeigt uns überall feste metrische Formen. <lb n="ple_095.005"/> In dem einmal gebildeten oder überlieferten Metrum wird jeder Inhalt <lb n="ple_095.006"/> gleichmäßig dargestellt: „fröuden, hôchgezîten, weinen und klagen“ sprechen <lb n="ple_095.007"/> aus denselben Rhythmen zu uns. Und das zweite Element der Melodie <lb n="ple_095.008"/> des Verses, die Klangfarbe, ist in ihrer charakteristischen Eigenart noch gar <lb n="ple_095.009"/> nicht zum Bewußtsein des Dichters gekommen. Nur ganz vereinzelt taucht <lb n="ple_095.010"/> im Homer oder im Nibelungenlied einmal ein Vers auf, in dem man die <lb n="ple_095.011"/> Absicht der Tonmalerei mit einiger Deutlichkeit erkennt.</p> <p><lb n="ple_095.012"/> Dies also das ursprüngliche Verhältnis. Versform und Inhalt gehen <lb n="ple_095.013"/> parallel, aber fremd nebeneinander her, nur die Abschnitte und Pausen sind <lb n="ple_095.014"/> ihnen gemeinsam. Eine zweifache Entwicklung nun ist von hier aus <lb n="ple_095.015"/> möglich und hat sich tatsächlich vollzogen.</p> <p><lb n="ple_095.016"/> Zunächst sehen wir, daß die Kunst der metrischen Form sich steigert <lb n="ple_095.017"/> und zu vielfältiger Gestaltung der Verse und Strophen führt, aber gleichwohl <lb n="ple_095.018"/> nach wie vor ohne Rücksicht auf den Inhalt behandelt wird. Der <lb n="ple_095.019"/> Rhythmus wechselt: mannigfache Reihen und Strophen werden gebildet. <lb n="ple_095.020"/> Sie tragen ausgesprochenen rhythmischen Charakter, aber dieser Charakter <lb n="ple_095.021"/> bleibt unabhängig von dem Inhalt und der Stimmung des Gedichts. Das <lb n="ple_095.022"/> tritt zunächst in der melischen Lyrik der Alten hervor. Wir sehen, daß <lb n="ple_095.023"/> die gleichen Formen für alle möglichen Gegenstände und Empfindungen verwandt <lb n="ple_095.024"/> werden; daß Horaz die Alcäische Strophe, die uns so pathetisch und <lb n="ple_095.025"/> erhaben klingt, ebensowohl in Trink- und Liebesliedern anwendet, wie in <lb n="ple_095.026"/> den majestätischen Römeroden des dritten Buchs, daß er die Sapphische <lb n="ple_095.027"/> Strophe, die für unser Ohr einen leidenschaftlich schmachtenden Charakter <lb n="ple_095.028"/> echt südlicher Natur trägt, ebenso wie die verschiedenen Asklepiadeischen <lb n="ple_095.029"/> Strophen der Klage und der Freude, der Liebe und der Politik gleichmäßig <lb n="ple_095.030"/> dienstbar macht. Ganz ähnlich bei den mittelhochdeutschen Minnesängern. <lb n="ple_095.031"/> Auch hier ist die Strophenform und der rhythmische Charakter <lb n="ple_095.032"/> der Verse im allgemeinen unabhängig vom Inhalt, ja die Einförmigkeit <lb n="ple_095.033"/> dieses letzteren ruft deutlich das Bestreben hervor, die Form möglichst <lb n="ple_095.034"/> mannigfaltig zu gestalten, ohne daß man doch danach strebte, ihrem Charakter <lb n="ple_095.035"/> innere Notwendigkeit zu geben.</p> <p><lb n="ple_095.036"/> Je eigenartiger und durchgebildeter nun aber die metrische Form wird, <lb n="ple_095.037"/> desto anspruchsvoller tritt sie auf. Anspruchsvoll in einem doppelten Sinne. <lb n="ple_095.038"/> Denn sie lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit der Hörer auf sich, sondern <lb n="ple_095.039"/> auch die des Dichters. Sie beeinflußt die Wahl seiner Worte und ihre Stellung <lb n="ple_095.040"/> und sie wirkt dadurch mittelbar selbst auf den Gedankeninhalt der Dichtung.</p> <p><lb n="ple_095.041"/> Eine derartige Einwirkung des Metrums auf den Stil findet auf allen <lb n="ple_095.042"/> Stufen, auch der ursprünglichsten statt. Zwar geht <hi rendition="#g">Bücher</hi> wohl zu weit, <lb n="ple_095.043"/> wenn er die Eigenart der Dichtersprache ausschließlich auf diesen Ursprung </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [95/0109]
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Sehen wir nun aber von diesen Gesetzen der Vers- und Redescheidung ple_095.002
ab, so fehlt der älteren Dichtung und insbesondere der Volkspoesie das ple_095.003
Gefühl für den inneren Zusammenhang der Form mit dem dargestellten ple_095.004
Inhalt durchaus. Das Volksepos zeigt uns überall feste metrische Formen. ple_095.005
In dem einmal gebildeten oder überlieferten Metrum wird jeder Inhalt ple_095.006
gleichmäßig dargestellt: „fröuden, hôchgezîten, weinen und klagen“ sprechen ple_095.007
aus denselben Rhythmen zu uns. Und das zweite Element der Melodie ple_095.008
des Verses, die Klangfarbe, ist in ihrer charakteristischen Eigenart noch gar ple_095.009
nicht zum Bewußtsein des Dichters gekommen. Nur ganz vereinzelt taucht ple_095.010
im Homer oder im Nibelungenlied einmal ein Vers auf, in dem man die ple_095.011
Absicht der Tonmalerei mit einiger Deutlichkeit erkennt.
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Dies also das ursprüngliche Verhältnis. Versform und Inhalt gehen ple_095.013
parallel, aber fremd nebeneinander her, nur die Abschnitte und Pausen sind ple_095.014
ihnen gemeinsam. Eine zweifache Entwicklung nun ist von hier aus ple_095.015
möglich und hat sich tatsächlich vollzogen.
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Zunächst sehen wir, daß die Kunst der metrischen Form sich steigert ple_095.017
und zu vielfältiger Gestaltung der Verse und Strophen führt, aber gleichwohl ple_095.018
nach wie vor ohne Rücksicht auf den Inhalt behandelt wird. Der ple_095.019
Rhythmus wechselt: mannigfache Reihen und Strophen werden gebildet. ple_095.020
Sie tragen ausgesprochenen rhythmischen Charakter, aber dieser Charakter ple_095.021
bleibt unabhängig von dem Inhalt und der Stimmung des Gedichts. Das ple_095.022
tritt zunächst in der melischen Lyrik der Alten hervor. Wir sehen, daß ple_095.023
die gleichen Formen für alle möglichen Gegenstände und Empfindungen verwandt ple_095.024
werden; daß Horaz die Alcäische Strophe, die uns so pathetisch und ple_095.025
erhaben klingt, ebensowohl in Trink- und Liebesliedern anwendet, wie in ple_095.026
den majestätischen Römeroden des dritten Buchs, daß er die Sapphische ple_095.027
Strophe, die für unser Ohr einen leidenschaftlich schmachtenden Charakter ple_095.028
echt südlicher Natur trägt, ebenso wie die verschiedenen Asklepiadeischen ple_095.029
Strophen der Klage und der Freude, der Liebe und der Politik gleichmäßig ple_095.030
dienstbar macht. Ganz ähnlich bei den mittelhochdeutschen Minnesängern. ple_095.031
Auch hier ist die Strophenform und der rhythmische Charakter ple_095.032
der Verse im allgemeinen unabhängig vom Inhalt, ja die Einförmigkeit ple_095.033
dieses letzteren ruft deutlich das Bestreben hervor, die Form möglichst ple_095.034
mannigfaltig zu gestalten, ohne daß man doch danach strebte, ihrem Charakter ple_095.035
innere Notwendigkeit zu geben.
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Je eigenartiger und durchgebildeter nun aber die metrische Form wird, ple_095.037
desto anspruchsvoller tritt sie auf. Anspruchsvoll in einem doppelten Sinne. ple_095.038
Denn sie lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit der Hörer auf sich, sondern ple_095.039
auch die des Dichters. Sie beeinflußt die Wahl seiner Worte und ihre Stellung ple_095.040
und sie wirkt dadurch mittelbar selbst auf den Gedankeninhalt der Dichtung.
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Eine derartige Einwirkung des Metrums auf den Stil findet auf allen ple_095.042
Stufen, auch der ursprünglichsten statt. Zwar geht Bücher wohl zu weit, ple_095.043
wenn er die Eigenart der Dichtersprache ausschließlich auf diesen Ursprung
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