Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.
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ple_103.001 ple_103.009 ple_103.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#aq"> <pb facs="#f0117" n="103"/> <lb n="ple_103.001"/> <lg> <l>Er hat den Wolken, die vorüberschweben,</l> <lb n="ple_103.002"/> <l>Den wesenlosen, einen Sinn gegeben:</l> <lb n="ple_103.003"/> <l>Der blassen weißen schleierhaftes Dehnen</l> <lb n="ple_103.004"/> <l>Gedeutet in ein blasses, süßes Sehnen;</l> <lb n="ple_103.005"/> <l>Der mächt'gen goldumrandet schwarzes Wallen</l> <lb n="ple_103.006"/> <l>Und runde, graue, die sich lachend ballen,</l> <lb n="ple_103.007"/> <l>Und rosig silberne, die abends ziehn:</l> <lb n="ple_103.008"/> <l>Sie haben Seele, haben Sinn durch ihn.“</l> </lg> </hi> </p> <p><lb n="ple_103.009"/> Es erscheint an sich nur natürlich, daß das Streben nach charakteristischer <lb n="ple_103.010"/> musikalischer Wirkung sich mit der Klangfarbe zugleich auch den Rhythmus <lb n="ple_103.011"/> dienstbar macht. Freilich liegt es, wie wir oben sahen, eben in der Natur <lb n="ple_103.012"/> und dem Ursprung des Rhythmus, daß er sich dem Inhalt der Dichtung <lb n="ple_103.013"/> gegenüber selbständiger und spröder verhält als der lautliche Klang, der <lb n="ple_103.014"/> mit der Sprache selbst unmittelbar gegeben ist. Daher dürfen wir uns <lb n="ple_103.015"/> nicht wundern, wenn uns das Zusammenwirken beider Elemente auch auf <lb n="ple_103.016"/> hohen Entwicklungsstufen der Poesie immer nur verhältnismäßig spät und <lb n="ple_103.017"/> selten entgegentritt.</p> <p><lb n="ple_103.018"/> Die Lyrik der Alten kannte, soweit sie Einzelgesang war — daß <lb n="ple_103.019"/> es sich mit den Chorliedern anders verhielt, werden wir später sehen —, <lb n="ple_103.020"/> die Verwendung der metrischen Form zur Charakteristik des Inhalts so gut <lb n="ple_103.021"/> wie gar nicht: höchstens einzelne Gattungen konnten durch die Wahl des <lb n="ple_103.022"/> Versmaßes bezeichnet werden, wie z. B. die Elegie. Auch im Minnesang <lb n="ple_103.023"/> blieb die Erfindung neuer Rhythmen und Strophen, so viel Wert auch <lb n="ple_103.024"/> darauf gelegt wurde und so sehr sie sich zur Virtuosität steigerte, so <lb n="ple_103.025"/> ziemlich unabhängig vom Inhalt und Stimmung des Gedichts. (Ob das <lb n="ple_103.026"/> auch für die <hi rendition="#g">Weise</hi> gilt, in denen die Lieder gesungen wurden, ist nach <lb n="ple_103.027"/> der Überlieferung schwerlich festzustellen.) Höchstens, daß sich der allgemeine <lb n="ple_103.028"/> Charakter des Inhalts in der Schwere oder Leichtigkeit des Metrums <lb n="ple_103.029"/> abschattiert, aber auch um das herauszufühlen, muß man schon so verschiedenartige <lb n="ple_103.030"/> Gedichte zusammenstellen, wie etwa Hartmanns kleines <lb n="ple_103.031"/> Frühlingslied: „In dem aberellen“ und die Marschrhythmen seines Kreuzliedes. <lb n="ple_103.032"/> Aber nur Walther versteht die Kunst, seine Rhythmen und Strophen <lb n="ple_103.033"/> zum intimeren Ausdruck seiner Gedanken und Empfindungen zu verwenden, <lb n="ple_103.034"/> und einzig von einer Anzahl seiner Gedichte erhalten wir den Eindruck <lb n="ple_103.035"/> eines tief künstlerischen Zusammenklangs von Inhalt und Form. So etwa <lb n="ple_103.036"/> in den abwechselnd langsam ansteigenden und dann wieder schnell fallenden <lb n="ple_103.037"/> Versen jenes Frühlingsliedes, in dem sich so ergreifend der Wechsel <lb n="ple_103.038"/> zwischen der Erinnerung an vergangenes Leid und die schüchterne Hoffnung <lb n="ple_103.039"/> auf ein neues Glück mischt: <lb n="ple_103.040"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Der rîfe tet der kleinen vogelen wê,</l><lb n="ple_103.041"/><l>daz si niht ensungen.</l><lb n="ple_103.042"/><l>Nû hôrt ichs aber wünneclîche als ê,</l><lb n="ple_103.043"/><l>nû ist diu heide entsprungen.<lb/> — — — — — — — — — — —</l></lg></hi></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [103/0117]
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Er hat den Wolken, die vorüberschweben, ple_103.002
Den wesenlosen, einen Sinn gegeben: ple_103.003
Der blassen weißen schleierhaftes Dehnen ple_103.004
Gedeutet in ein blasses, süßes Sehnen; ple_103.005
Der mächt'gen goldumrandet schwarzes Wallen ple_103.006
Und runde, graue, die sich lachend ballen, ple_103.007
Und rosig silberne, die abends ziehn: ple_103.008
Sie haben Seele, haben Sinn durch ihn.“
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Es erscheint an sich nur natürlich, daß das Streben nach charakteristischer ple_103.010
musikalischer Wirkung sich mit der Klangfarbe zugleich auch den Rhythmus ple_103.011
dienstbar macht. Freilich liegt es, wie wir oben sahen, eben in der Natur ple_103.012
und dem Ursprung des Rhythmus, daß er sich dem Inhalt der Dichtung ple_103.013
gegenüber selbständiger und spröder verhält als der lautliche Klang, der ple_103.014
mit der Sprache selbst unmittelbar gegeben ist. Daher dürfen wir uns ple_103.015
nicht wundern, wenn uns das Zusammenwirken beider Elemente auch auf ple_103.016
hohen Entwicklungsstufen der Poesie immer nur verhältnismäßig spät und ple_103.017
selten entgegentritt.
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Die Lyrik der Alten kannte, soweit sie Einzelgesang war — daß ple_103.019
es sich mit den Chorliedern anders verhielt, werden wir später sehen —, ple_103.020
die Verwendung der metrischen Form zur Charakteristik des Inhalts so gut ple_103.021
wie gar nicht: höchstens einzelne Gattungen konnten durch die Wahl des ple_103.022
Versmaßes bezeichnet werden, wie z. B. die Elegie. Auch im Minnesang ple_103.023
blieb die Erfindung neuer Rhythmen und Strophen, so viel Wert auch ple_103.024
darauf gelegt wurde und so sehr sie sich zur Virtuosität steigerte, so ple_103.025
ziemlich unabhängig vom Inhalt und Stimmung des Gedichts. (Ob das ple_103.026
auch für die Weise gilt, in denen die Lieder gesungen wurden, ist nach ple_103.027
der Überlieferung schwerlich festzustellen.) Höchstens, daß sich der allgemeine ple_103.028
Charakter des Inhalts in der Schwere oder Leichtigkeit des Metrums ple_103.029
abschattiert, aber auch um das herauszufühlen, muß man schon so verschiedenartige ple_103.030
Gedichte zusammenstellen, wie etwa Hartmanns kleines ple_103.031
Frühlingslied: „In dem aberellen“ und die Marschrhythmen seines Kreuzliedes. ple_103.032
Aber nur Walther versteht die Kunst, seine Rhythmen und Strophen ple_103.033
zum intimeren Ausdruck seiner Gedanken und Empfindungen zu verwenden, ple_103.034
und einzig von einer Anzahl seiner Gedichte erhalten wir den Eindruck ple_103.035
eines tief künstlerischen Zusammenklangs von Inhalt und Form. So etwa ple_103.036
in den abwechselnd langsam ansteigenden und dann wieder schnell fallenden ple_103.037
Versen jenes Frühlingsliedes, in dem sich so ergreifend der Wechsel ple_103.038
zwischen der Erinnerung an vergangenes Leid und die schüchterne Hoffnung ple_103.039
auf ein neues Glück mischt: ple_103.040
Der rîfe tet der kleinen vogelen wê, ple_103.041
daz si niht ensungen. ple_103.042
Nû hôrt ichs aber wünneclîche als ê, ple_103.043
nû ist diu heide entsprungen.
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