Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.
ple_104.001 ple_104.008 ple_104.011 ple_104.015 ple_104.110 1) ple_104.112
Eine auffallende, wenn auch natürlich rein zufällige Ähnlichkeit nach Stimmungsgehalt ple_104.113 und Form weist dieses Lied mit dem schönen Horazischen Frühlingsgedicht auf: ple_104.114 Diffugere nives, redeunt iam gramina campis ple_104.115 ple_104.118Arboribusque comae ple_104.116 Mutat terra vices et decrescentia ripas ple_104.117 Flumina praetereunt. In beiden Gedichten mischt sich der schwermütige Gedanke der Vergänglichkeit in die ple_104.119 Frühlingslust, und in beiden wird die Doppelstimmung durch den Wechsel längerer und ple_104.120 kurzer entschieden fallender Verse rhythmisch wiedergegeben. So durchaus antik auch ple_104.121 das eine empfunden ist und so entschieden das andere die Sprache des ritterlichen Spielmanns ple_104.122 spricht, die beiden großen Lyriker verschiedener Zeiten reichen sich hier die Hände.
ple_104.001 ple_104.008 ple_104.011 ple_104.015 ple_104.110 1) ple_104.112
Eine auffallende, wenn auch natürlich rein zufällige Ähnlichkeit nach Stimmungsgehalt ple_104.113 und Form weist dieses Lied mit dem schönen Horazischen Frühlingsgedicht auf: ple_104.114 Diffugere nives, redeunt iam gramina campis ple_104.115 ple_104.118Arboribusque comae ple_104.116 Mutat terra vices et decrescentia ripas ple_104.117 Flumina praetereunt. In beiden Gedichten mischt sich der schwermütige Gedanke der Vergänglichkeit in die ple_104.119 Frühlingslust, und in beiden wird die Doppelstimmung durch den Wechsel längerer und ple_104.120 kurzer entschieden fallender Verse rhythmisch wiedergegeben. So durchaus antik auch ple_104.121 das eine empfunden ist und so entschieden das andere die Sprache des ritterlichen Spielmanns ple_104.122 spricht, die beiden großen Lyriker verschiedener Zeiten reichen sich hier die Hände. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#aq"> <pb facs="#f0118" n="104"/> <lb n="ple_104.001"/> <lg> <l>Uns hât der winter kalt und ander nôt</l> <lb n="ple_104.002"/> <l>vil getân ze leide.</l> <lb n="ple_104.003"/> <l>Ich wânde, daz ich iemer bluomen rôt</l> <lb n="ple_104.004"/> <l>gesaehe an grüener heide.</l> <lb n="ple_104.005"/> <l>Doch schâte ez guoten liuten, waere ich tôt,</l> <lb n="ple_104.006"/> <l>die nach fröuden rungen</l> <lb n="ple_104.007"/> <l>und die gerne tanzten unde sprungen.</l> </lg> </hi> </p> <p><lb n="ple_104.008"/> ausklingend in das schwermütige: <lb n="ple_104.009"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Got gesegen iuch alle:</l><lb n="ple_104.010"/><l>wünschet noch, daz mir ein heil gevalle.<note xml:id="ple_104_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_104.112"/> Eine auffallende, wenn auch natürlich rein zufällige Ähnlichkeit nach Stimmungsgehalt <lb n="ple_104.113"/> und Form weist dieses Lied mit dem schönen Horazischen Frühlingsgedicht auf: <lb n="ple_104.114"/> <lg><l>Diffugere nives, redeunt iam gramina campis</l><lb n="ple_104.115"/><l>Arboribusque comae</l><lb n="ple_104.116"/><l>Mutat terra vices et decrescentia ripas</l><lb n="ple_104.117"/><l>Flumina praetereunt.</l></lg> <lb n="ple_104.118"/> In beiden Gedichten mischt sich der schwermütige Gedanke der Vergänglichkeit in die <lb n="ple_104.119"/> Frühlingslust, und in beiden wird die Doppelstimmung durch den Wechsel längerer und <lb n="ple_104.120"/> kurzer entschieden fallender Verse rhythmisch wiedergegeben. 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Daher wird für gewöhnlich <lb n="ple_104.020"/> nur in kleineren Gedichten, in denen die Stimmung wesentlich <lb n="ple_104.021"/> die gleiche bleibt, eine durchgehende Übereinstimmung möglich sein, wie <lb n="ple_104.022"/> in dem angeführten Gedicht Walters oder dem S. 125 abgedruckten Goetheschen <lb n="ple_104.023"/> „Nähe des Geliebten“. Auch Heine sind ein paar vollendete kleine <lb n="ple_104.024"/> Stimmungsbilder dieser Art gelungen: <lb n="ple_104.025"/> <cb type="start"/><hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">1.</hi></hi> <lb n="ple_104.026"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff</l><lb n="ple_104.027"/><l>Wohl über das wilde Meer;</l><lb n="ple_104.028"/><l>Du weißt, wie sehr ich traurig bin</l><lb n="ple_104.029"/><l>Und kränkst mich doch so schwer. </l></lg><lg><lb n="ple_104.030"/><l>Dein Herz ist treulos wie der Wind</l><lb n="ple_104.031"/><l>Und flattert hin und her.</l><lb n="ple_104.032"/><l>Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff</l><lb n="ple_104.033"/><l>Wohl über das wilde Meer.</l></lg></hi><cb/> <lb n="ple_104.101"/> <hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">2.</hi></hi> <lb n="ple_104.102"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Eine starke, schwarze Barke</l><lb n="ple_104.103"/><l>Segelt trauervoll dahin.</l><lb n="ple_104.104"/><l>Die vermummten und verstummten</l><lb n="ple_104.105"/><l>Leichenträger sitzen drin.<lb/> — — — — — — — — — —</l></lg><lg><lb n="ple_104.106"/><l>Aus der Tiefe klingt's, als riefe</l><lb n="ple_104.107"/><l>Eine kranke Nixenbraut,</l><lb n="ple_104.108"/><l>Und die Wellen, sie zerschellen</l><lb n="ple_104.109"/><l>An dem Kahn, wie Klagelaut.</l></lg></hi><cb type="end"/></p> <p><lb n="ple_104.110"/> Auch die S. 129 angeführten Verse gehören hierher. In größeren strophischen <lb n="ple_104.111"/> Gedichten jedoch, zumal erzählenden, die eine fortschreitende Handlung darstellen, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [104/0118]
ple_104.001
Uns hât der winter kalt und ander nôt ple_104.002
vil getân ze leide. ple_104.003
Ich wânde, daz ich iemer bluomen rôt ple_104.004
gesaehe an grüener heide. ple_104.005
Doch schâte ez guoten liuten, waere ich tôt, ple_104.006
die nach fröuden rungen ple_104.007
und die gerne tanzten unde sprungen.
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ausklingend in das schwermütige: ple_104.009
Got gesegen iuch alle: ple_104.010
wünschet noch, daz mir ein heil gevalle. 1)
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Und ähnliche Eindrücke erhält man, wenn man die frische und fröhliche ple_104.012
Weise „Ir sult sprechen willekommen“ mit dem langgezogenen melancholischen ple_104.013
Rhythmus jenes späten Klagegesangs vergleicht: „Owê war sint ple_104.014
verswunden alliu mîniu jâr!“
ple_104.015
Im allgemeinen muß ein regelmäßig wiederkehrendes Metrum, muß ple_104.016
insbesondere die Strophenbildung die rhythmische Charakteristik erschweren. ple_104.017
Denn was charakterisiert werden soll, Stimmung und Inhalt des Gedichtes, ple_104.018
ist bei weitem beweglicher als eine solche feste Form, und diese vermag ple_104.019
daher nicht, sich ihm im einzelnen anzuschmiegen. Daher wird für gewöhnlich ple_104.020
nur in kleineren Gedichten, in denen die Stimmung wesentlich ple_104.021
die gleiche bleibt, eine durchgehende Übereinstimmung möglich sein, wie ple_104.022
in dem angeführten Gedicht Walters oder dem S. 125 abgedruckten Goetheschen ple_104.023
„Nähe des Geliebten“. Auch Heine sind ein paar vollendete kleine ple_104.024
Stimmungsbilder dieser Art gelungen: ple_104.025
1. ple_104.026
Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff ple_104.027
Wohl über das wilde Meer; ple_104.028
Du weißt, wie sehr ich traurig bin ple_104.029
Und kränkst mich doch so schwer.
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Dein Herz ist treulos wie der Wind ple_104.031
Und flattert hin und her. ple_104.032
Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff ple_104.033
Wohl über das wilde Meer.
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2. ple_104.102
Eine starke, schwarze Barke ple_104.103
Segelt trauervoll dahin. ple_104.104
Die vermummten und verstummten ple_104.105
Leichenträger sitzen drin.
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Aus der Tiefe klingt's, als riefe ple_104.107
Eine kranke Nixenbraut, ple_104.108
Und die Wellen, sie zerschellen ple_104.109
An dem Kahn, wie Klagelaut.
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Auch die S. 129 angeführten Verse gehören hierher. In größeren strophischen ple_104.111
Gedichten jedoch, zumal erzählenden, die eine fortschreitende Handlung darstellen,
1) ple_104.112
Eine auffallende, wenn auch natürlich rein zufällige Ähnlichkeit nach Stimmungsgehalt ple_104.113
und Form weist dieses Lied mit dem schönen Horazischen Frühlingsgedicht auf: ple_104.114
Diffugere nives, redeunt iam gramina campis ple_104.115
Arboribusque comae ple_104.116
Mutat terra vices et decrescentia ripas ple_104.117
Flumina praetereunt.
ple_104.118
In beiden Gedichten mischt sich der schwermütige Gedanke der Vergänglichkeit in die ple_104.119
Frühlingslust, und in beiden wird die Doppelstimmung durch den Wechsel längerer und ple_104.120
kurzer entschieden fallender Verse rhythmisch wiedergegeben. So durchaus antik auch ple_104.121
das eine empfunden ist und so entschieden das andere die Sprache des ritterlichen Spielmanns ple_104.122
spricht, die beiden großen Lyriker verschiedener Zeiten reichen sich hier die Hände.
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