Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_106.001 ple_106.016 ple_106.020 ple_106.023 ple_106.025 ple_106.001 ple_106.016 ple_106.020 ple_106.023 ple_106.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0120" n="106"/><lb n="ple_106.001"/> Gefühl über die metrische Konvention heraushob. Wie wir sahen, <lb n="ple_106.002"/> belebte er zuerst die antiken Odenmaße, die er bei Horaz fand, durch die <lb n="ple_106.003"/> Klangmittel der Lautmalerei. Dann ging er dazu über, selbst Strophen zu <lb n="ple_106.004"/> erfinden, deren rhythmischer Charakter den Inhalt malen sollte. Es ist <lb n="ple_106.005"/> ihm das bisweilen auch glücklich gelungen, so namentlich in kleineren <lb n="ple_106.006"/> Gedichten, wie „Die frühen Gräber“; in längeren Oden jedoch sieht man, <lb n="ple_106.007"/> daß der erfundene Rhythmus, wiewohl er dem Charakter der Grundanschauung <lb n="ple_106.008"/> entspricht, sich im einzelnen doch nur in einer oder der <lb n="ple_106.009"/> anderen Strophe unmittelbar dem Inhalt anschließt, sonst aber ihm ebenso <lb n="ple_106.010"/> fremd bleibt, wie ein überliefertes Schema, ja, daß er eben seiner charakteristischen <lb n="ple_106.011"/> Eigenart wegen unter Umständen hemmt und stört. So im Eislauf, <lb n="ple_106.012"/> wo das Versmaß, freilich nicht mit allzu viel Glück, das Gleiten des <lb n="ple_106.013"/> Schlittschuhs malt: <lb n="ple_106.014"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>„Nimm den Schwung, wie du mich ihn nehmen siehst</l><lb n="ple_106.015"/><l>Also nun fleuch schnell mir vorbei.“</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_106.016"/> Aber wie wenig entspricht dieser Rhythmus dem Inhalt einer Stelle wie die: <lb n="ple_106.017"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Wie erhellt des Winters werdender Tag</l><lb n="ple_106.018"/><l>Sanft den See! Glänzender Reif Sternen gleich</l><lb n="ple_106.019"/><l>Streute die Nacht über ihn aus.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_106.020"/> Oder dem reflektierenden: <lb n="ple_106.021"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Was ihr Geist grübelnd ersann, nutzen wir,</l><lb n="ple_106.022"/><l>Aber belohnt Ehre sie auch?</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_106.023"/> Einen ähnlichen Eindruck erhält man von der Ode: „Unsere Sprache“, <lb n="ple_106.024"/> wo das Rauschen des Waldbachs rhythmisch gemalt wird.</p> <p><lb n="ple_106.025"/> Daher drängt das Streben zur rhythmischen Charakteristik mit innerer <lb n="ple_106.026"/> Notwendigkeit zur Auflösung der Strophe in freie Rhythmen hin. Klopstocks <lb n="ple_106.027"/> Frühlingsfeier gab das berühmteste Beispiel. Noch ist die Vierzahl <lb n="ple_106.028"/> der Zeile in der Schreibart festgehalten. Aber ihre Länge ist so verschieden, <lb n="ple_106.029"/> daß von einer Strophenform für das Ohr nicht mehr die Rede sein kann. <lb n="ple_106.030"/> Dafür schließen sich nun die Rhythmen auf das engste den Bildern und <lb n="ple_106.031"/> Gedanken an, und, erfüllt von den reichsten und sattesten Klangfarben, <lb n="ple_106.032"/> entfalten sie sich unter dem Einfluß der machtvoll sich steigernden Stimmung <lb n="ple_106.033"/> mit ihren Gegensätzen und Höhepunkten zu einer Wortsymphonie von <lb n="ple_106.034"/> musikalischer Gewalt und Größe, die doch ihren Zusammenhang mit dem <lb n="ple_106.035"/> Gedankengang im einzelnen an keiner Stelle verliert. Nur die chorische <lb n="ple_106.036"/> Lyrik der Griechen hatte, vor allem bei Äschylos, von der Musik getragen, <lb n="ple_106.037"/> ebenso charakteristische und vielleicht noch gewaltigere Wirkungen <lb n="ple_106.038"/> hervorgebracht. Unter dem unmittelbaren Einfluß dieser und einiger <lb n="ple_106.039"/> anderen Klopstockschen Schöpfungen, hat Goethe seine Gedichte in freien <lb n="ple_106.040"/> Rhythmen gebildet, durchweg Meisterwerke der musikalisch rhythmischen <lb n="ple_106.041"/> Wortgestaltung; die Wirkung meist nicht so klanggewaltig wie bei Klopstock, <lb n="ple_106.042"/> aber dafür um so intimer und zarter. Gedichte wie die Seefahrt oder </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [106/0120]
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Gefühl über die metrische Konvention heraushob. Wie wir sahen, ple_106.002
belebte er zuerst die antiken Odenmaße, die er bei Horaz fand, durch die ple_106.003
Klangmittel der Lautmalerei. Dann ging er dazu über, selbst Strophen zu ple_106.004
erfinden, deren rhythmischer Charakter den Inhalt malen sollte. Es ist ple_106.005
ihm das bisweilen auch glücklich gelungen, so namentlich in kleineren ple_106.006
Gedichten, wie „Die frühen Gräber“; in längeren Oden jedoch sieht man, ple_106.007
daß der erfundene Rhythmus, wiewohl er dem Charakter der Grundanschauung ple_106.008
entspricht, sich im einzelnen doch nur in einer oder der ple_106.009
anderen Strophe unmittelbar dem Inhalt anschließt, sonst aber ihm ebenso ple_106.010
fremd bleibt, wie ein überliefertes Schema, ja, daß er eben seiner charakteristischen ple_106.011
Eigenart wegen unter Umständen hemmt und stört. So im Eislauf, ple_106.012
wo das Versmaß, freilich nicht mit allzu viel Glück, das Gleiten des ple_106.013
Schlittschuhs malt: ple_106.014
„Nimm den Schwung, wie du mich ihn nehmen siehst ple_106.015
Also nun fleuch schnell mir vorbei.“
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Aber wie wenig entspricht dieser Rhythmus dem Inhalt einer Stelle wie die: ple_106.017
Wie erhellt des Winters werdender Tag ple_106.018
Sanft den See! Glänzender Reif Sternen gleich ple_106.019
Streute die Nacht über ihn aus.
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Oder dem reflektierenden: ple_106.021
Was ihr Geist grübelnd ersann, nutzen wir, ple_106.022
Aber belohnt Ehre sie auch?
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Einen ähnlichen Eindruck erhält man von der Ode: „Unsere Sprache“, ple_106.024
wo das Rauschen des Waldbachs rhythmisch gemalt wird.
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Daher drängt das Streben zur rhythmischen Charakteristik mit innerer ple_106.026
Notwendigkeit zur Auflösung der Strophe in freie Rhythmen hin. Klopstocks ple_106.027
Frühlingsfeier gab das berühmteste Beispiel. Noch ist die Vierzahl ple_106.028
der Zeile in der Schreibart festgehalten. Aber ihre Länge ist so verschieden, ple_106.029
daß von einer Strophenform für das Ohr nicht mehr die Rede sein kann. ple_106.030
Dafür schließen sich nun die Rhythmen auf das engste den Bildern und ple_106.031
Gedanken an, und, erfüllt von den reichsten und sattesten Klangfarben, ple_106.032
entfalten sie sich unter dem Einfluß der machtvoll sich steigernden Stimmung ple_106.033
mit ihren Gegensätzen und Höhepunkten zu einer Wortsymphonie von ple_106.034
musikalischer Gewalt und Größe, die doch ihren Zusammenhang mit dem ple_106.035
Gedankengang im einzelnen an keiner Stelle verliert. Nur die chorische ple_106.036
Lyrik der Griechen hatte, vor allem bei Äschylos, von der Musik getragen, ple_106.037
ebenso charakteristische und vielleicht noch gewaltigere Wirkungen ple_106.038
hervorgebracht. Unter dem unmittelbaren Einfluß dieser und einiger ple_106.039
anderen Klopstockschen Schöpfungen, hat Goethe seine Gedichte in freien ple_106.040
Rhythmen gebildet, durchweg Meisterwerke der musikalisch rhythmischen ple_106.041
Wortgestaltung; die Wirkung meist nicht so klanggewaltig wie bei Klopstock, ple_106.042
aber dafür um so intimer und zarter. Gedichte wie die Seefahrt oder
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