Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_107.001 ple_107.003 ple_107.025 ple_107.027 ple_107.029 ple_107.030 ple_107.031 ple_107.036 ple_107.001 ple_107.003 ple_107.025 ple_107.027 ple_107.029 ple_107.030 ple_107.031 ple_107.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0121" n="107"/><lb n="ple_107.001"/> die Harzreise im Winter verhalten sich zur Frühlingsfeier wie ein Streichquartett <lb n="ple_107.002"/> zu einer Symphonie mit großem Orchester.</p> <p><lb n="ple_107.003"/> Die Rhythmik der Romantiker beschreitet vielfach die hier vorgezeichnete <lb n="ple_107.004"/> Bahn. Hölderlin im Schicksalslied und anderen großzügigen <lb n="ple_107.005"/> Gedichten, Novalis in den Hymnen an die Nacht, die freilich in unabgesetzter <lb n="ple_107.006"/> rhythmischer Prosa gedruckt wurden, aber als Verse gedacht und <lb n="ple_107.007"/> niedergeschrieben sind, haben besonders gewaltige und tiefe Töne angeschlagen. <lb n="ple_107.008"/> Heines Zyklus „Die Nordsee“ verdankt der rhythmisch charakterisierenden <lb n="ple_107.009"/> Kunst einen Teil seines lebensfrischen Reizes. Auch in der <lb n="ple_107.010"/> Gegenwart treten Versuche auf, die hier anknüpfen. Richard Dehmel besonders <lb n="ple_107.011"/> hat die Form der freien Rhythmen mehrfach mit Glück verwandt. <lb n="ple_107.012"/> Er schreibt sie, wie einst Klopstock, gern in strophenartigen Absätzen von <lb n="ple_107.013"/> gleicher Reihenzahl. Der Eingang eines seiner besten Gedichte möge das <lb n="ple_107.014"/> veranschaulichen: <lb n="ple_107.015"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Über Rußlands Leichenwüstenei</l><lb n="ple_107.016"/><l>Faltet hoch die Nacht die blassen Hände;</l><lb n="ple_107.017"/><l>Funkeläugig durch die weiße, weite,</l><lb n="ple_107.018"/><l>Kalte Stille starrt die Nacht und lauscht.</l><lb n="ple_107.019"/><l>Schrill kommt ein Geläute. </l></lg><lg><lb n="ple_107.020"/><l>Dumpf ein Stampfen von Hufen, fahl flatternder Reif</l><lb n="ple_107.021"/><l>Ein Schlitten knirscht, die Kufe pflügt</l><lb n="ple_107.022"/><l>Stiebende Furchen, die Peitsche pfeift,</l><lb n="ple_107.023"/><l>Es dampfen die Pferde, Atem fliegt;</l><lb n="ple_107.024"/><l>Flimmernd zittern die Birken.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_107.025"/> Dreifach, so hat uns die vorhergehende Betrachtung gelehrt, können <lb n="ple_107.026"/> sich metrische Form und Gehalt der Dichtung zueinander verhalten:</p> <p><lb n="ple_107.027"/> 1. Beide sind nur äußerlich aneinander geknüpft, und die Form bewahrt <lb n="ple_107.028"/> ihre selbständige Eigenart,</p> <p><lb n="ple_107.029"/> 2. die Form wirkt auf den Inhalt ein,</p> <p><lb n="ple_107.030"/> 3. sie hängt von ihm ab, geht organisch aus ihm hervor.</p> <p><lb n="ple_107.031"/> Dieses letztere Verhältnis ist offenbar das höchste, das einzige, das den <lb n="ple_107.032"/> verfeinerten künstlerischen Sinn völlig befriedigen wird, aber es treibt auf <lb n="ple_107.033"/> eine Auflösung der geschlossenen metrischen Form hin und es steht nicht, <lb n="ple_107.034"/> wie man wohl geglaubt hat, als das einzig natürliche am Anfang, sondern <lb n="ple_107.035"/> vielmehr als letzter Höhepunkt am Ende der künstlerischen Entwicklung.</p> <p> <lb n="ple_107.036"/> <hi rendition="#aq">Der zuletzt geschilderten Entwicklung gegenüber ist es wenig berechtigt, wenn <hi rendition="#g">Arno <lb n="ple_107.037"/> Holz</hi> in einem öfters genannten Buche für sich in Anspruch nimmt, mit der Durchführung der <lb n="ple_107.038"/> freien Rhythmen eine „Revolution der Lyrik“ begründet zu haben. Er behauptet freilich, seine <lb n="ple_107.039"/> Vorgänger Goethe und Heine seien erst bis zu den sogenannten „freien, noch nicht aber <lb n="ple_107.040"/> schon zu den natürlichen Rhythmen gelangt“. Er selbst sucht „eine Lyrik, die auf jede <lb n="ple_107.041"/> Musik durch Worte als Selbstzweck verzichtet und die, rein formal, lediglich durch einen <lb n="ple_107.042"/> Rhythmus getragen wird, der nur noch durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck ringt.“ <lb n="ple_107.043"/> (Revolution der Lyrik. Berlin 1899. S. 26.) Was er will, ist offenbar eine Sprache, die <lb n="ple_107.044"/> von jedem Streben nach irgend welchem Gleichmaß, von jedem Überrest metrischer An- </hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [107/0121]
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die Harzreise im Winter verhalten sich zur Frühlingsfeier wie ein Streichquartett ple_107.002
zu einer Symphonie mit großem Orchester.
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Die Rhythmik der Romantiker beschreitet vielfach die hier vorgezeichnete ple_107.004
Bahn. Hölderlin im Schicksalslied und anderen großzügigen ple_107.005
Gedichten, Novalis in den Hymnen an die Nacht, die freilich in unabgesetzter ple_107.006
rhythmischer Prosa gedruckt wurden, aber als Verse gedacht und ple_107.007
niedergeschrieben sind, haben besonders gewaltige und tiefe Töne angeschlagen. ple_107.008
Heines Zyklus „Die Nordsee“ verdankt der rhythmisch charakterisierenden ple_107.009
Kunst einen Teil seines lebensfrischen Reizes. Auch in der ple_107.010
Gegenwart treten Versuche auf, die hier anknüpfen. Richard Dehmel besonders ple_107.011
hat die Form der freien Rhythmen mehrfach mit Glück verwandt. ple_107.012
Er schreibt sie, wie einst Klopstock, gern in strophenartigen Absätzen von ple_107.013
gleicher Reihenzahl. Der Eingang eines seiner besten Gedichte möge das ple_107.014
veranschaulichen: ple_107.015
Über Rußlands Leichenwüstenei ple_107.016
Faltet hoch die Nacht die blassen Hände; ple_107.017
Funkeläugig durch die weiße, weite, ple_107.018
Kalte Stille starrt die Nacht und lauscht. ple_107.019
Schrill kommt ein Geläute.
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Dumpf ein Stampfen von Hufen, fahl flatternder Reif ple_107.021
Ein Schlitten knirscht, die Kufe pflügt ple_107.022
Stiebende Furchen, die Peitsche pfeift, ple_107.023
Es dampfen die Pferde, Atem fliegt; ple_107.024
Flimmernd zittern die Birken.
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Dreifach, so hat uns die vorhergehende Betrachtung gelehrt, können ple_107.026
sich metrische Form und Gehalt der Dichtung zueinander verhalten:
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1. Beide sind nur äußerlich aneinander geknüpft, und die Form bewahrt ple_107.028
ihre selbständige Eigenart,
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2. die Form wirkt auf den Inhalt ein,
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3. sie hängt von ihm ab, geht organisch aus ihm hervor.
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Dieses letztere Verhältnis ist offenbar das höchste, das einzige, das den ple_107.032
verfeinerten künstlerischen Sinn völlig befriedigen wird, aber es treibt auf ple_107.033
eine Auflösung der geschlossenen metrischen Form hin und es steht nicht, ple_107.034
wie man wohl geglaubt hat, als das einzig natürliche am Anfang, sondern ple_107.035
vielmehr als letzter Höhepunkt am Ende der künstlerischen Entwicklung.
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Der zuletzt geschilderten Entwicklung gegenüber ist es wenig berechtigt, wenn Arno ple_107.037
Holz in einem öfters genannten Buche für sich in Anspruch nimmt, mit der Durchführung der ple_107.038
freien Rhythmen eine „Revolution der Lyrik“ begründet zu haben. Er behauptet freilich, seine ple_107.039
Vorgänger Goethe und Heine seien erst bis zu den sogenannten „freien, noch nicht aber ple_107.040
schon zu den natürlichen Rhythmen gelangt“. Er selbst sucht „eine Lyrik, die auf jede ple_107.041
Musik durch Worte als Selbstzweck verzichtet und die, rein formal, lediglich durch einen ple_107.042
Rhythmus getragen wird, der nur noch durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck ringt.“ ple_107.043
(Revolution der Lyrik. Berlin 1899. S. 26.) Was er will, ist offenbar eine Sprache, die ple_107.044
von jedem Streben nach irgend welchem Gleichmaß, von jedem Überrest metrischer An-
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