Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.
ple_108.001 ple_108.012 ple_108.019 ple_108.026 10. Die Prinzipien der Komposition. Wenn Sprache und rhythmische ple_108.027
ple_108.001 ple_108.012 ple_108.019 ple_108.026 10. Die Prinzipien der Komposition. Wenn Sprache und rhythmische ple_108.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#aq"><pb facs="#f0122" n="108"/><lb n="ple_108.001"/> klänge völlig befreit ist und nur den Inhalt dessen, was sie ausdrückt, auch in ihrem <lb n="ple_108.002"/> Tonfall zur Geltung bringt. Das pflegt man sonst Prosa zu nennen, noch nicht einmal <lb n="ple_108.003"/> rhythmisierte Prosa. Daher vermag denn Holz seinen Begriff von Poesie nur durch die <lb n="ple_108.004"/> Behauptung aufrecht zu erhalten: „Die Prosa kümmert sich um Klangwirkungen überhaupt <lb n="ple_108.005"/> nicht,“ was offenbar grundfalsch ist. Und wie Prosa wirken denn auch seine Verse, abgesehen <lb n="ple_108.006"/> von solchen Stellen, in denen trotz ihrem Verfasser ein gleichmäßiger Rhythmus <lb n="ple_108.007"/> herrscht, oder auch, was bisweilen der Fall ist, die Schönheit des Ausdrucks oder der <lb n="ple_108.008"/> Klangfarbe uns den fehlenden Rhythmus verschmerzen läßt. Man höre einen Anfang wie den: <lb n="ple_108.009"/> <lg><l>„Zwischen Gräben und grauen Hecken,</l><lb n="ple_108.010"/><l>den Rockkragen hoch, die Hände in den Taschen,</l><lb n="ple_108.011"/><l>schlendre ich durch den frühen Märzmorgen.“</l></lg></hi> </p> <p> <lb n="ple_108.012"/> <hi rendition="#aq">Kann es etwas Prosaischeres geben? Andrerseits ist der Vers: <lb n="ple_108.013"/> <lg><l>Vor meinem Fenster</l><lb n="ple_108.014"/><l>singt ein Vogel.</l><lb n="ple_108.015"/><l>Still hör ich zu; mein Herz vergeht.</l><lb n="ple_108.016"/><l>Er singt,</l><lb n="ple_108.017"/><l>was ich als Kind besaß</l><lb n="ple_108.018"/><l>und dann — vergessen.</l></lg></hi> </p> <p> <lb n="ple_108.019"/> <hi rendition="#aq">gewiß ein zierliches kleines Gedicht! Was aber darin revolutionär sein soll, wird niemand <lb n="ple_108.020"/> entdecken. Der größere Teil der Holzschen „Phantasus“ gedichte freilich zeigt eine solche <lb n="ple_108.021"/> Verwilderung des Formen- und Stilgefühls, ja eine solche Roheit des Geschmacks, und <lb n="ple_108.022"/> die Gedichte seiner Schüler, die Holz in seinem Buche mitteilt, tragen außer diesen Eigenschaften <lb n="ple_108.023"/> noch durchweg eine so klägliche Impotenz zur Schau, daß die allgemeinere Ausbreitung <lb n="ple_108.024"/> einer freien Form, die eine derartige Produktion begünstigt oder doch erleichtert, <lb n="ple_108.025"/> auf keinen Fall wünschenswert sein kann.</hi> </p> </div> <div n="3"> <head> <lb n="ple_108.026"/> <hi rendition="#b">10. Die Prinzipien der Komposition.</hi> </head> <p> Wenn Sprache und rhythmische <lb n="ple_108.027"/> Form im Irrationalen wurzeln, wenn alle ihre Wirkungen durch <lb n="ple_108.028"/> das Gefühl vermittelt sind und sich daher der wissenschaftlichen Einsicht <lb n="ple_108.029"/> immer nur zum Teil zugänglich erweisen, so erscheint <hi rendition="#g">die Gestaltung <lb n="ple_108.030"/> des künstlerischen Aufbaus</hi> wesentlich als das Geschäft des ordnenden <lb n="ple_108.031"/> Verstandes und daher für die verstandesmäßige Erkenntnis beträchtlich <lb n="ple_108.032"/> durchsichtiger. Allerdings ist auch diese architektonische Tätigkeit nicht <lb n="ple_108.033"/> das Werk bewußter Reflexion oder gar eines schematischen Verfahrens. <lb n="ple_108.034"/> Nur von der Einteilung eines Dichtwerks in Gesänge oder Akte kann man <lb n="ple_108.035"/> das sagen: sie kommt hauptsächlich aus praktischen Erwägungen zustande <lb n="ple_108.036"/> und erfolgt oft erst, wenn der Dichter sein Werk innerlich abgeschlossen <lb n="ple_108.037"/> hat und als Ganzes übersieht; äußere Rücksichten, z. B. auf die Länge <lb n="ple_108.038"/> der einzelnen Abschnitte, nicht selten auch auf überlieferte Schemata, wie <lb n="ple_108.039"/> die üblichen fünf Akte der Tragödie, sind maßgebend. Daher ist denn auch <lb n="ple_108.040"/> hier für das tiefere Verständnis der Dichtwerke und ihrer Wirkungen wenig <lb n="ple_108.041"/> Belehrung zu gewinnen. Die eigentlich architektonische Arbeit aber, die <lb n="ple_108.042"/> weit wesentlicher und innerlicher ist als die Einteilung, wird weder dem <lb n="ple_108.043"/> Dichter noch seinem naiv aufnehmenden Leser oder Zuschauer in all <lb n="ple_108.044"/> ihren technischen Einzelheiten zum Bewußtsein kommen, und je ursprünglicher <lb n="ple_108.045"/> sein gestaltendes Talent ist, desto unmittelbarer wird er das <lb n="ple_108.046"/> Richtige treffen und die beabsichtigte Wirkung erzielen. Dennoch lassen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [108/0122]
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klänge völlig befreit ist und nur den Inhalt dessen, was sie ausdrückt, auch in ihrem ple_108.002
Tonfall zur Geltung bringt. Das pflegt man sonst Prosa zu nennen, noch nicht einmal ple_108.003
rhythmisierte Prosa. Daher vermag denn Holz seinen Begriff von Poesie nur durch die ple_108.004
Behauptung aufrecht zu erhalten: „Die Prosa kümmert sich um Klangwirkungen überhaupt ple_108.005
nicht,“ was offenbar grundfalsch ist. Und wie Prosa wirken denn auch seine Verse, abgesehen ple_108.006
von solchen Stellen, in denen trotz ihrem Verfasser ein gleichmäßiger Rhythmus ple_108.007
herrscht, oder auch, was bisweilen der Fall ist, die Schönheit des Ausdrucks oder der ple_108.008
Klangfarbe uns den fehlenden Rhythmus verschmerzen läßt. Man höre einen Anfang wie den: ple_108.009
„Zwischen Gräben und grauen Hecken, ple_108.010
den Rockkragen hoch, die Hände in den Taschen, ple_108.011
schlendre ich durch den frühen Märzmorgen.“
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Kann es etwas Prosaischeres geben? Andrerseits ist der Vers: ple_108.013
Vor meinem Fenster ple_108.014
singt ein Vogel. ple_108.015
Still hör ich zu; mein Herz vergeht. ple_108.016
Er singt, ple_108.017
was ich als Kind besaß ple_108.018
und dann — vergessen.
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gewiß ein zierliches kleines Gedicht! Was aber darin revolutionär sein soll, wird niemand ple_108.020
entdecken. Der größere Teil der Holzschen „Phantasus“ gedichte freilich zeigt eine solche ple_108.021
Verwilderung des Formen- und Stilgefühls, ja eine solche Roheit des Geschmacks, und ple_108.022
die Gedichte seiner Schüler, die Holz in seinem Buche mitteilt, tragen außer diesen Eigenschaften ple_108.023
noch durchweg eine so klägliche Impotenz zur Schau, daß die allgemeinere Ausbreitung ple_108.024
einer freien Form, die eine derartige Produktion begünstigt oder doch erleichtert, ple_108.025
auf keinen Fall wünschenswert sein kann.
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10. Die Prinzipien der Komposition. Wenn Sprache und rhythmische ple_108.027
Form im Irrationalen wurzeln, wenn alle ihre Wirkungen durch ple_108.028
das Gefühl vermittelt sind und sich daher der wissenschaftlichen Einsicht ple_108.029
immer nur zum Teil zugänglich erweisen, so erscheint die Gestaltung ple_108.030
des künstlerischen Aufbaus wesentlich als das Geschäft des ordnenden ple_108.031
Verstandes und daher für die verstandesmäßige Erkenntnis beträchtlich ple_108.032
durchsichtiger. Allerdings ist auch diese architektonische Tätigkeit nicht ple_108.033
das Werk bewußter Reflexion oder gar eines schematischen Verfahrens. ple_108.034
Nur von der Einteilung eines Dichtwerks in Gesänge oder Akte kann man ple_108.035
das sagen: sie kommt hauptsächlich aus praktischen Erwägungen zustande ple_108.036
und erfolgt oft erst, wenn der Dichter sein Werk innerlich abgeschlossen ple_108.037
hat und als Ganzes übersieht; äußere Rücksichten, z. B. auf die Länge ple_108.038
der einzelnen Abschnitte, nicht selten auch auf überlieferte Schemata, wie ple_108.039
die üblichen fünf Akte der Tragödie, sind maßgebend. Daher ist denn auch ple_108.040
hier für das tiefere Verständnis der Dichtwerke und ihrer Wirkungen wenig ple_108.041
Belehrung zu gewinnen. Die eigentlich architektonische Arbeit aber, die ple_108.042
weit wesentlicher und innerlicher ist als die Einteilung, wird weder dem ple_108.043
Dichter noch seinem naiv aufnehmenden Leser oder Zuschauer in all ple_108.044
ihren technischen Einzelheiten zum Bewußtsein kommen, und je ursprünglicher ple_108.045
sein gestaltendes Talent ist, desto unmittelbarer wird er das ple_108.046
Richtige treffen und die beabsichtigte Wirkung erzielen. Dennoch lassen
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