Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_121.001 ple_121.003 ple_121.024 1) ple_121.039
Daher ist auch die herkömmliche Einteilung der Lyrik nach dem äußeren Anlaß ple_121.040 (z. B. Liebes-, Natur- und politische Lyrik) für das Wesen der lyrischen Kunst belanglos, ple_121.041 und die sehr eingehende Einteilung, die R. M. Werner S. 110-157 seines oben angeführten ple_121.042 Buches entwirft, mag zwar für die äußere Übersicht über das Vorhandene praktisch brauchbar ple_121.043 sein, aber für das Wesen der Lyrik ist sie wenig belehrend. ple_121.001 ple_121.003 ple_121.024 1) ple_121.039
Daher ist auch die herkömmliche Einteilung der Lyrik nach dem äußeren Anlaß ple_121.040 (z. B. Liebes-, Natur- und politische Lyrik) für das Wesen der lyrischen Kunst belanglos, ple_121.041 und die sehr eingehende Einteilung, die R. M. Werner S. 110–157 seines oben angeführten ple_121.042 Buches entwirft, mag zwar für die äußere Übersicht über das Vorhandene praktisch brauchbar ple_121.043 sein, aber für das Wesen der Lyrik ist sie wenig belehrend. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0135" n="121"/><lb n="ple_121.001"/> Freiheit wurzelt, macht für das künstlerische Wesen des Gedichts keinen <lb n="ple_121.002"/> Unterschied.<note xml:id="ple_121_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_121.039"/> Daher ist auch die herkömmliche Einteilung der Lyrik nach dem äußeren Anlaß <lb n="ple_121.040"/> (z. B. Liebes-, Natur- und politische Lyrik) für das Wesen der lyrischen Kunst belanglos, <lb n="ple_121.041"/> und die sehr eingehende Einteilung, die R. M. Werner S. 110–157 seines oben angeführten <lb n="ple_121.042"/> Buches entwirft, mag zwar für die äußere Übersicht über das Vorhandene praktisch brauchbar <lb n="ple_121.043"/> sein, aber für das Wesen der Lyrik ist sie wenig belehrend.</note> </p> <p><lb n="ple_121.003"/> Die Außenwelt wird in aller wahren Lyrik nur in schwachen Umrissen, <lb n="ple_121.004"/> in einigen für das Gefühl wesentlichen Zügen erscheinen. Am <lb n="ple_121.005"/> deutlichsten zeigt sich das in der Wiedergabe von Natureindrücken und <lb n="ple_121.006"/> Landschaftsbildern. Ihre Darstellung wird, um einen Ausdruck der modernen <lb n="ple_121.007"/> Malerei anzuwenden, immer etwas <hi rendition="#g">Impressionistisches</hi> haben und eingehendere <lb n="ple_121.008"/> Schilderungen ausschließen. Daher war die beschreibende <lb n="ple_121.009"/> Dichtung alten Stils gerichtet, sobald mit Klopstocks Oden die ersten <lb n="ple_121.010"/> wahrhaft lyrischen Gedichte ihren Siegeszug durch die deutsche Jugend <lb n="ple_121.011"/> hielten, fast zwei Jahrzehnte, bevor Lessing im Laokoon der Poesie das <lb n="ple_121.012"/> Malen verbot. Es sind hier freilich verschiedene Abstufungen möglich, je <lb n="ple_121.013"/> nachdem das Gefühl des Dichters sich der Einzelheiten des Naturbildes <lb n="ple_121.014"/> bemächtigt, die ihm das Auge bietet oder nur am Gesamteindruck haften <lb n="ple_121.015"/> bleibt. In der klassischen wie in der romantischen Dichtung treten Landschaftsbilder <lb n="ple_121.016"/> und Naturvorgänge bisweilen in bestimmten Umrissen auf: <lb n="ple_121.017"/> so die Schilderungen des Gewitters in der Frühlingsfeier, der Ruinen in <lb n="ple_121.018"/> Goethes Wanderer, des Stillen Grundes bei Eichendorff; weit öfter aber <lb n="ple_121.019"/> finden wir bloße Andeutungen. Klopstocks Ode an den Züricher See <lb n="ple_121.020"/> skizziert die Landschaft mit ein paar lebendigen Strichen; Goethes Harzreise <lb n="ple_121.021"/> und Lied an den Mond lassen sie nur eben erraten. Und die moderne <lb n="ple_121.022"/> Lyrik neigt — wie wir später sehen werden — noch weit entschiedener <lb n="ple_121.023"/> zur Auflösung aller bestimmten Züge. —</p> <p><lb n="ple_121.024"/> Gefühle in Worten wiederzugeben und beim Hören oder Lesen lebendig <lb n="ple_121.025"/> zu machen, ist die besondere Aufgabe des Lyrikers. Wie versucht und <lb n="ple_121.026"/> vermag er es, sie zu erfüllen? Werfen wir zunächst einen Blick auf das <lb n="ple_121.027"/> Bild, das uns die Literaturgeschichte darbietet, so zeigt sie uns einen dreifach <lb n="ple_121.028"/> verschiedenen Charakter der lyrischen Sprache. In den älteren Epochen <lb n="ple_121.029"/> literarischer Überlieferung tritt uns überall eine starke Neigung zu formelhaft <lb n="ple_121.030"/> <hi rendition="#g">konventionellem</hi> Ausdruck entgegen. Bestimmte Vergleichungen <lb n="ple_121.031"/> und Umschreibungen kehren immer wieder und bilden den Grundstock, <lb n="ple_121.032"/> aus dem der Dichter schöpft und dem er dann je nach Vermögen neue <lb n="ple_121.033"/> Wendungen abgewinnt oder hinzugesellt. Dieses Bild zeigt uns der größte <lb n="ple_121.034"/> Teil der höfischen Lyrik des Mittelalters, vielfach aber auch das lyrische <lb n="ple_121.035"/> Volkslied der späteren Jahrhunderte. Wie die Persönlichkeit der Dichter, <lb n="ple_121.036"/> so erscheint auch ihre Ausdrucksweise eingeschränkt und konventionell <lb n="ple_121.037"/> gebunden. Wir müssen annehmen, daß dieser Charakter bereits eine gewisse <lb n="ple_121.038"/> Erstarrung bedeutet und eine Zeit frischerer und ungebundenerer </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [121/0135]
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Freiheit wurzelt, macht für das künstlerische Wesen des Gedichts keinen ple_121.002
Unterschied. 1)
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Die Außenwelt wird in aller wahren Lyrik nur in schwachen Umrissen, ple_121.004
in einigen für das Gefühl wesentlichen Zügen erscheinen. Am ple_121.005
deutlichsten zeigt sich das in der Wiedergabe von Natureindrücken und ple_121.006
Landschaftsbildern. Ihre Darstellung wird, um einen Ausdruck der modernen ple_121.007
Malerei anzuwenden, immer etwas Impressionistisches haben und eingehendere ple_121.008
Schilderungen ausschließen. Daher war die beschreibende ple_121.009
Dichtung alten Stils gerichtet, sobald mit Klopstocks Oden die ersten ple_121.010
wahrhaft lyrischen Gedichte ihren Siegeszug durch die deutsche Jugend ple_121.011
hielten, fast zwei Jahrzehnte, bevor Lessing im Laokoon der Poesie das ple_121.012
Malen verbot. Es sind hier freilich verschiedene Abstufungen möglich, je ple_121.013
nachdem das Gefühl des Dichters sich der Einzelheiten des Naturbildes ple_121.014
bemächtigt, die ihm das Auge bietet oder nur am Gesamteindruck haften ple_121.015
bleibt. In der klassischen wie in der romantischen Dichtung treten Landschaftsbilder ple_121.016
und Naturvorgänge bisweilen in bestimmten Umrissen auf: ple_121.017
so die Schilderungen des Gewitters in der Frühlingsfeier, der Ruinen in ple_121.018
Goethes Wanderer, des Stillen Grundes bei Eichendorff; weit öfter aber ple_121.019
finden wir bloße Andeutungen. Klopstocks Ode an den Züricher See ple_121.020
skizziert die Landschaft mit ein paar lebendigen Strichen; Goethes Harzreise ple_121.021
und Lied an den Mond lassen sie nur eben erraten. Und die moderne ple_121.022
Lyrik neigt — wie wir später sehen werden — noch weit entschiedener ple_121.023
zur Auflösung aller bestimmten Züge. —
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Gefühle in Worten wiederzugeben und beim Hören oder Lesen lebendig ple_121.025
zu machen, ist die besondere Aufgabe des Lyrikers. Wie versucht und ple_121.026
vermag er es, sie zu erfüllen? Werfen wir zunächst einen Blick auf das ple_121.027
Bild, das uns die Literaturgeschichte darbietet, so zeigt sie uns einen dreifach ple_121.028
verschiedenen Charakter der lyrischen Sprache. In den älteren Epochen ple_121.029
literarischer Überlieferung tritt uns überall eine starke Neigung zu formelhaft ple_121.030
konventionellem Ausdruck entgegen. Bestimmte Vergleichungen ple_121.031
und Umschreibungen kehren immer wieder und bilden den Grundstock, ple_121.032
aus dem der Dichter schöpft und dem er dann je nach Vermögen neue ple_121.033
Wendungen abgewinnt oder hinzugesellt. Dieses Bild zeigt uns der größte ple_121.034
Teil der höfischen Lyrik des Mittelalters, vielfach aber auch das lyrische ple_121.035
Volkslied der späteren Jahrhunderte. Wie die Persönlichkeit der Dichter, ple_121.036
so erscheint auch ihre Ausdrucksweise eingeschränkt und konventionell ple_121.037
gebunden. Wir müssen annehmen, daß dieser Charakter bereits eine gewisse ple_121.038
Erstarrung bedeutet und eine Zeit frischerer und ungebundenerer
1) ple_121.039
Daher ist auch die herkömmliche Einteilung der Lyrik nach dem äußeren Anlaß ple_121.040
(z. B. Liebes-, Natur- und politische Lyrik) für das Wesen der lyrischen Kunst belanglos, ple_121.041
und die sehr eingehende Einteilung, die R. M. Werner S. 110–157 seines oben angeführten ple_121.042
Buches entwirft, mag zwar für die äußere Übersicht über das Vorhandene praktisch brauchbar ple_121.043
sein, aber für das Wesen der Lyrik ist sie wenig belehrend.
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