Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_135.001 ple_135.036 1) ple_135.042
Das Erlebnis und die Dichtung, S. 301. ple_135.001 ple_135.036 1) ple_135.042
Das Erlebnis und die Dichtung, S. 301. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0149" n="135"/><lb n="ple_135.001"/> „Schiller“, sagt Dilthey,<note xml:id="ple_135_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_135.042"/> Das Erlebnis und die Dichtung, S. 301.</note> „fand einen eigenen lyrischen Ausdruck für die <lb n="ple_135.002"/> große Emotion der Zeit, die auf die Verwirklichung der idealen Werte in <lb n="ple_135.003"/> einer neuen Menschheit gerichtet war. Der lyrische Stil, den er entdeckte, <lb n="ple_135.004"/> war gänzlich verschieden von dem, welchen Pindar, Klopstock und Goethe <lb n="ple_135.005"/> für den Seelenvorgang gefunden haben, der von großen Gegenständen aus <lb n="ple_135.006"/> im Gemüt hervorgebracht wird. Schiller löste seine Aufgabe durch eine <lb n="ple_135.007"/> der Gedankenlyrik gemäße Behandlung des gereimten Verses. Er verband <lb n="ple_135.008"/> wirkungsstarke Perioden zu einem einzigen breit ausladenden Ganzen. Dabei <lb n="ple_135.009"/> bediente er sich jedes Mittels der Sprache, die Gliederung des inneren <lb n="ple_135.010"/> Vorgangs durch einen äußeren Zusammenhang sichtbar zu machen. Das <lb n="ple_135.011"/> starke, aber dunkle Gefühl, das ein großer Gegenstand hervorruft, wird an <lb n="ple_135.012"/> dessen Teilen entfaltet, bis alle seine Momente zum Bewußtsein erhoben <lb n="ple_135.013"/> sind und nun so im Gemüt zusammengehalten werden. Besonders wirkungsvoll <lb n="ple_135.014"/> ist das Anschwellen des Gemüts, welches Teil auf Teil der <lb n="ple_135.015"/> ideellen Anschauung aneinanderfügt in lauter parallelen großen Perioden, <lb n="ple_135.016"/> bis dann in der Mitte des Gedichts die seelische Bewegung gemäß der <lb n="ple_135.017"/> Gesetzlichkeit des Gefühls wieder sinkt. So durchläuft das Gedicht „Die <lb n="ple_135.018"/> Götter Griechenlands“ zuerst alle Bestandteile dieser göttlichen Welt, mit <lb n="ple_135.019"/> jedem derselben steigert sich das Gefühl ihrer Schönheit, immer wieder <lb n="ple_135.020"/> erfüllt und bestätigt dies Gefühl sich an neuen Teilen der Anschauung: <lb n="ple_135.021"/> bis dann plötzlich hieraus die unendliche Sehnsucht und ein grenzenloses <lb n="ple_135.022"/> Gefühl des Verlustes hervorbricht und sich die Seele nun hineinwühlt in <lb n="ple_135.023"/> jede Tatsache, die diesen Verlust verdeutlicht. So entsteht ein neuer großzügiger <lb n="ple_135.024"/> Rhythmus, die Energie im Wachstum des Gefühls ausdrückend, <lb n="ple_135.025"/> das aus der Vertiefung in die Teile des ideellen Gegenstandes hervorgeht, <lb n="ple_135.026"/> aus dem leidenschaftlichen Vorgezogenwerden von Teil zu Teil.“ Schiller <lb n="ple_135.027"/> fand nur einen Nachfolger, der diese Höhe zu behaupten vermochte: <lb n="ple_135.028"/> Hölderlin. „Niemand“, so schreibt Dilthey mit Recht, „neben oder nach <lb n="ple_135.029"/> Hölderlin ist dieser Form Schillers gewachsen gewesen.“ Wenn Schillers <lb n="ple_135.030"/> dichterische Unmittelbarkeit so oft verkannt wird, wenn die meisten Literarhistoriker <lb n="ple_135.031"/> der Gegenwart dazu neigen, in seiner Gedankenlyrik nur Erzeugnisse <lb n="ple_135.032"/> des Willens und der Reflexion zu sehen, so liegt das daran, daß <lb n="ple_135.033"/> sie verkennen, wie tiefes Erlebnis für ihn das Ringen um philosophische <lb n="ple_135.034"/> Erkenntnis mit seinen Zweifeln und Siegen war, was der Wechsel der Lebensanschauung <lb n="ple_135.035"/> von Shaftesbury zu Kant für sein Gefühlsleben bedeutete.</p> <p><lb n="ple_135.036"/> Leichter freilich als in diesen abstrakten Gedankengängen ist in <lb n="ple_135.037"/> einer Weltanschauung, die in allen Teilen der Natur, in allen Vorgängen <lb n="ple_135.038"/> der menschlichen Seele unmittelbare Äußerungen göttlicher Kräfte sucht <lb n="ple_135.039"/> und findet und alle diese Kräfte zu einer unendlichen, welterfüllenden Einheit <lb n="ple_135.040"/> zusammenfaßt, das gefühlsmäßige Element und die begeisternde Macht <lb n="ple_135.041"/> zu entdecken. Sind doch die mystische Gottesliebe Spinozas und zugleich </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [135/0149]
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„Schiller“, sagt Dilthey, 1) „fand einen eigenen lyrischen Ausdruck für die ple_135.002
große Emotion der Zeit, die auf die Verwirklichung der idealen Werte in ple_135.003
einer neuen Menschheit gerichtet war. Der lyrische Stil, den er entdeckte, ple_135.004
war gänzlich verschieden von dem, welchen Pindar, Klopstock und Goethe ple_135.005
für den Seelenvorgang gefunden haben, der von großen Gegenständen aus ple_135.006
im Gemüt hervorgebracht wird. Schiller löste seine Aufgabe durch eine ple_135.007
der Gedankenlyrik gemäße Behandlung des gereimten Verses. Er verband ple_135.008
wirkungsstarke Perioden zu einem einzigen breit ausladenden Ganzen. Dabei ple_135.009
bediente er sich jedes Mittels der Sprache, die Gliederung des inneren ple_135.010
Vorgangs durch einen äußeren Zusammenhang sichtbar zu machen. Das ple_135.011
starke, aber dunkle Gefühl, das ein großer Gegenstand hervorruft, wird an ple_135.012
dessen Teilen entfaltet, bis alle seine Momente zum Bewußtsein erhoben ple_135.013
sind und nun so im Gemüt zusammengehalten werden. Besonders wirkungsvoll ple_135.014
ist das Anschwellen des Gemüts, welches Teil auf Teil der ple_135.015
ideellen Anschauung aneinanderfügt in lauter parallelen großen Perioden, ple_135.016
bis dann in der Mitte des Gedichts die seelische Bewegung gemäß der ple_135.017
Gesetzlichkeit des Gefühls wieder sinkt. So durchläuft das Gedicht „Die ple_135.018
Götter Griechenlands“ zuerst alle Bestandteile dieser göttlichen Welt, mit ple_135.019
jedem derselben steigert sich das Gefühl ihrer Schönheit, immer wieder ple_135.020
erfüllt und bestätigt dies Gefühl sich an neuen Teilen der Anschauung: ple_135.021
bis dann plötzlich hieraus die unendliche Sehnsucht und ein grenzenloses ple_135.022
Gefühl des Verlustes hervorbricht und sich die Seele nun hineinwühlt in ple_135.023
jede Tatsache, die diesen Verlust verdeutlicht. So entsteht ein neuer großzügiger ple_135.024
Rhythmus, die Energie im Wachstum des Gefühls ausdrückend, ple_135.025
das aus der Vertiefung in die Teile des ideellen Gegenstandes hervorgeht, ple_135.026
aus dem leidenschaftlichen Vorgezogenwerden von Teil zu Teil.“ Schiller ple_135.027
fand nur einen Nachfolger, der diese Höhe zu behaupten vermochte: ple_135.028
Hölderlin. „Niemand“, so schreibt Dilthey mit Recht, „neben oder nach ple_135.029
Hölderlin ist dieser Form Schillers gewachsen gewesen.“ Wenn Schillers ple_135.030
dichterische Unmittelbarkeit so oft verkannt wird, wenn die meisten Literarhistoriker ple_135.031
der Gegenwart dazu neigen, in seiner Gedankenlyrik nur Erzeugnisse ple_135.032
des Willens und der Reflexion zu sehen, so liegt das daran, daß ple_135.033
sie verkennen, wie tiefes Erlebnis für ihn das Ringen um philosophische ple_135.034
Erkenntnis mit seinen Zweifeln und Siegen war, was der Wechsel der Lebensanschauung ple_135.035
von Shaftesbury zu Kant für sein Gefühlsleben bedeutete.
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Leichter freilich als in diesen abstrakten Gedankengängen ist in ple_135.037
einer Weltanschauung, die in allen Teilen der Natur, in allen Vorgängen ple_135.038
der menschlichen Seele unmittelbare Äußerungen göttlicher Kräfte sucht ple_135.039
und findet und alle diese Kräfte zu einer unendlichen, welterfüllenden Einheit ple_135.040
zusammenfaßt, das gefühlsmäßige Element und die begeisternde Macht ple_135.041
zu entdecken. Sind doch die mystische Gottesliebe Spinozas und zugleich
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