Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_139.001 ple_139.011 ple_139.015 12. Epische Dichtung. Während die lyrische Dichtung nichts als ple_139.016 ple_139.030 ple_139.001 ple_139.011 ple_139.015 12. Epische Dichtung. Während die lyrische Dichtung nichts als ple_139.016 ple_139.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0153" n="139"/><lb n="ple_139.001"/> witzige Spitze wird zugleich eine aggressive sein, die überraschende Wendung <lb n="ple_139.002"/> eine polemische, sei es, daß sie sich gegen einzelne Personen richtet <lb n="ple_139.003"/> (Invektive), sei es, daß sie allgemeine Richtungen und Zustände trifft. Sehr <lb n="ple_139.004"/> häufig werden diese letzteren in fingierten Personen gegeißelt, da Witz und <lb n="ple_139.005"/> Angriff dadurch schlagender und wirksamer erscheint. Schon Martial verstand <lb n="ple_139.006"/> sich auf diese Methode, und Lessing ahmt sie ihm in fast allen seinen <lb n="ple_139.007"/> Sinngedichten nach. Goethe macht es sich mit der Überschrift <hi rendition="#g">Mamsell</hi> <lb n="ple_139.008"/> N. N. einigermaßen leicht, aber auch er bewegt sich fast durchweg einem <lb n="ple_139.009"/> fingierten Du oder Ihr gegenüber. Ihre gemeinsamen Xenien freilich haben <lb n="ple_139.010"/> Schiller und Goethe direkt an bestimmte persönliche Gegner gerichtet.</p> <p><lb n="ple_139.011"/> Mit dem Epigramm in seiner ausgesprochen verstandesmäßigen Natur <lb n="ple_139.012"/> haben wir uns der Grenze der Poesie genähert: wir wenden uns nunmehr <lb n="ple_139.013"/> wiederum ihrem zentralen Gebiete zu und fassen zunächst die epische <lb n="ple_139.014"/> Dichtung ins Auge.</p> </div> <div n="3"> <head> <lb n="ple_139.015"/> <hi rendition="#b">12. Epische Dichtung.</hi> </head> <p> Während die lyrische Dichtung nichts als <lb n="ple_139.016"/> der reine Ausdruck innerer Zustände des Dichters, seiner Gefühle, Stimmungen <lb n="ple_139.017"/> und Gedanken ist, stellen Epos und Drama eine gegenständliche <lb n="ple_139.018"/> Welt und zwar in lebendiger Bewegung, Menschen und ihre Handlungen <lb n="ple_139.019"/> dar. Beide bilden mithin der Lyrik gegenüber eine gemeinsame Kategorie, <lb n="ple_139.020"/> und man hat sie denn auch mehrfach unter einen gemeinsamen Namen <lb n="ple_139.021"/> zusammengefaßt. Schiller und Goethe bezeichnen sie als <hi rendition="#g">pragmatische</hi> <lb n="ple_139.022"/> Dichtungsarten (z. B. Schiller an Goethe am 25. April 1797), W. v. Humboldt <lb n="ple_139.023"/> als <hi rendition="#g">plastische</hi> (über Goethes Hermann und Dorothea S. 245 Anm.). <lb n="ple_139.024"/> <hi rendition="#g">Objektive</hi> Dichtung würde treffender bezeichnen, was beiden der subjektiven <lb n="ple_139.025"/> Gattung der Lyrik gegenüber gemeinsam ist. Indessen ist dieses <lb n="ple_139.026"/> Wort, wie wir sehen werden, schon in so mannigfachem Sinne von der <lb n="ple_139.027"/> Poetik in Anspruch genommen, daß es nicht ratsam ist, noch einen neuen <lb n="ple_139.028"/> Gebrauch hinzuzufügen. Ich werde daher im Folgenden die Übersetzung <lb n="ple_139.029"/> <hi rendition="#g">gegenständliche Dichtung</hi> gebrauchen.</p> <p><lb n="ple_139.030"/> Auch die gegenständliche Dichtung geht, wie die Lyrik, aus inneren <lb n="ple_139.031"/> Erlebnissen des Dichters hervor. Aber diese Erlebnisse bleiben nicht, wie <lb n="ple_139.032"/> dort, in der Sphäre des Empfindens und Denkens: die Phantasie des <lb n="ple_139.033"/> Epikers und Dramatikers schafft Gestalten und Charaktere, die, wiewohl <lb n="ple_139.034"/> von seinem Herzblut getränkt, sich doch gleichsam von ihm loslösen und, <lb n="ple_139.035"/> plastisch ausgeprägt, die Züge selbständig eigenen Wesens tragen. Der <lb n="ple_139.036"/> Dichter erlebt ihre Handlungen und Schicksale mit, wie die seiner Kinder, <lb n="ple_139.037"/> seiner nächsten Freunde; aber er selbst bleibt außerhalb der Welt, die <lb n="ple_139.038"/> seine Schöpfung ist: er verschwindet hinter ihr, oder besser, er geht <lb n="ple_139.039"/> in ihr auf, und seine Persönlichkeit, in der Lyrik der Brennpunkt, in <lb n="ple_139.040"/> welchem die Strahlen des Gefühls wie der Idee zusammentreffen, erscheint <lb n="ple_139.041"/> hier gleichsam ausgelöscht. Und ganz dem entsprechend muß auch der <lb n="ple_139.042"/> Zuschauer und Leser sein eigenes Ich, das ihm in der Lyrik zum Träger <lb n="ple_139.043"/> der Empfindungen wird, hier vergessen; er muß ganz in der Welt leben, die </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [139/0153]
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witzige Spitze wird zugleich eine aggressive sein, die überraschende Wendung ple_139.002
eine polemische, sei es, daß sie sich gegen einzelne Personen richtet ple_139.003
(Invektive), sei es, daß sie allgemeine Richtungen und Zustände trifft. Sehr ple_139.004
häufig werden diese letzteren in fingierten Personen gegeißelt, da Witz und ple_139.005
Angriff dadurch schlagender und wirksamer erscheint. Schon Martial verstand ple_139.006
sich auf diese Methode, und Lessing ahmt sie ihm in fast allen seinen ple_139.007
Sinngedichten nach. Goethe macht es sich mit der Überschrift Mamsell ple_139.008
N. N. einigermaßen leicht, aber auch er bewegt sich fast durchweg einem ple_139.009
fingierten Du oder Ihr gegenüber. Ihre gemeinsamen Xenien freilich haben ple_139.010
Schiller und Goethe direkt an bestimmte persönliche Gegner gerichtet.
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Mit dem Epigramm in seiner ausgesprochen verstandesmäßigen Natur ple_139.012
haben wir uns der Grenze der Poesie genähert: wir wenden uns nunmehr ple_139.013
wiederum ihrem zentralen Gebiete zu und fassen zunächst die epische ple_139.014
Dichtung ins Auge.
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12. Epische Dichtung. Während die lyrische Dichtung nichts als ple_139.016
der reine Ausdruck innerer Zustände des Dichters, seiner Gefühle, Stimmungen ple_139.017
und Gedanken ist, stellen Epos und Drama eine gegenständliche ple_139.018
Welt und zwar in lebendiger Bewegung, Menschen und ihre Handlungen ple_139.019
dar. Beide bilden mithin der Lyrik gegenüber eine gemeinsame Kategorie, ple_139.020
und man hat sie denn auch mehrfach unter einen gemeinsamen Namen ple_139.021
zusammengefaßt. Schiller und Goethe bezeichnen sie als pragmatische ple_139.022
Dichtungsarten (z. B. Schiller an Goethe am 25. April 1797), W. v. Humboldt ple_139.023
als plastische (über Goethes Hermann und Dorothea S. 245 Anm.). ple_139.024
Objektive Dichtung würde treffender bezeichnen, was beiden der subjektiven ple_139.025
Gattung der Lyrik gegenüber gemeinsam ist. Indessen ist dieses ple_139.026
Wort, wie wir sehen werden, schon in so mannigfachem Sinne von der ple_139.027
Poetik in Anspruch genommen, daß es nicht ratsam ist, noch einen neuen ple_139.028
Gebrauch hinzuzufügen. Ich werde daher im Folgenden die Übersetzung ple_139.029
gegenständliche Dichtung gebrauchen.
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Auch die gegenständliche Dichtung geht, wie die Lyrik, aus inneren ple_139.031
Erlebnissen des Dichters hervor. Aber diese Erlebnisse bleiben nicht, wie ple_139.032
dort, in der Sphäre des Empfindens und Denkens: die Phantasie des ple_139.033
Epikers und Dramatikers schafft Gestalten und Charaktere, die, wiewohl ple_139.034
von seinem Herzblut getränkt, sich doch gleichsam von ihm loslösen und, ple_139.035
plastisch ausgeprägt, die Züge selbständig eigenen Wesens tragen. Der ple_139.036
Dichter erlebt ihre Handlungen und Schicksale mit, wie die seiner Kinder, ple_139.037
seiner nächsten Freunde; aber er selbst bleibt außerhalb der Welt, die ple_139.038
seine Schöpfung ist: er verschwindet hinter ihr, oder besser, er geht ple_139.039
in ihr auf, und seine Persönlichkeit, in der Lyrik der Brennpunkt, in ple_139.040
welchem die Strahlen des Gefühls wie der Idee zusammentreffen, erscheint ple_139.041
hier gleichsam ausgelöscht. Und ganz dem entsprechend muß auch der ple_139.042
Zuschauer und Leser sein eigenes Ich, das ihm in der Lyrik zum Träger ple_139.043
der Empfindungen wird, hier vergessen; er muß ganz in der Welt leben, die
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