Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_140.001 ple_140.004 1) ple_140.039
Es ist hier nicht die Stelle, zu erörtern, wie weit diese Sätze, die der herkömmlichen ple_140.040 Aufassung entsprechen, im Widerspruch zu der "Illusionstheorie" stehen, die ple_140.041 Konrad Lange in seinem Buche "Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer realistischen ple_140.042 Kunstlehre" aufgestellt hat, und wie weit sie etwa mit Langes Auffassung vereinbar wären. ple_140.043 Hingewiesen möge jedenfalls auf das geistvolle Werk hier werden. ple_140.001 ple_140.004 1) ple_140.039
Es ist hier nicht die Stelle, zu erörtern, wie weit diese Sätze, die der herkömmlichen ple_140.040 Aufassung entsprechen, im Widerspruch zu der „Illusionstheorie“ stehen, die ple_140.041 Konrad Lange in seinem Buche „Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer realistischen ple_140.042 Kunstlehre“ aufgestellt hat, und wie weit sie etwa mit Langes Auffassung vereinbar wären. ple_140.043 Hingewiesen möge jedenfalls auf das geistvolle Werk hier werden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0154" n="140"/><lb n="ple_140.001"/> sich vor ihm aufbaut. Solange ich mir bewußt bin, daß ich im Theater <lb n="ple_140.002"/> sitze oder ein Buch in der Hand habe, ist die höchste Wirkung nicht erreicht.<note xml:id="ple_140_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_140.039"/> Es ist hier nicht die Stelle, zu erörtern, wie weit diese Sätze, die der herkömmlichen <lb n="ple_140.040"/> Aufassung entsprechen, im Widerspruch zu der „Illusionstheorie“ stehen, die <lb n="ple_140.041"/> Konrad <hi rendition="#g">Lange</hi> in seinem Buche „Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer realistischen <lb n="ple_140.042"/> Kunstlehre“ aufgestellt hat, und wie weit sie etwa mit Langes Auffassung vereinbar wären. <lb n="ple_140.043"/> Hingewiesen möge jedenfalls auf das geistvolle Werk hier werden.</note> </p> <lb n="ple_140.003"/> <p><lb n="ple_140.004"/> Wenden wir uns nun zuerst der <hi rendition="#g">epischen</hi> Dichtung zu und suchen <lb n="ple_140.005"/> wir festzustellen, worin das Wesen dieser Gattung besteht, so tritt uns eine <lb n="ple_140.006"/> Reihe von falschen oder doch schiefen Vorstellungen hinderlich in den Weg, <lb n="ple_140.007"/> die sich durch das ganze Jahrhundert, das seit dem Höhepunkt unserer <lb n="ple_140.008"/> klassischen Dichtung vergangen ist, hindurchziehen. Denn in seltsamer <lb n="ple_140.009"/> Weise ist die Theorie des Epos durch vorgefaßte Meinungen und moralische <lb n="ple_140.010"/> Anschauungen getrübt und verwirrt worden, und unsere großen <lb n="ple_140.011"/> Dichter selbst sind nicht ohne Schuld daran. Die einseitige Schätzung <lb n="ple_140.012"/> des Griechentums, die ganze absolut wertende Methode, welche die Poetik <lb n="ple_140.013"/> der klassischen Epoche beherrschte, tritt in ihren Ursachen wie ihren <lb n="ple_140.014"/> Folgen nirgends so klar zutage wie hier. Seit Lessings Laokoon erscheint <lb n="ple_140.015"/> es als ein unerschütterliches Dogma, daß nur aus dem Homer das Wesen <lb n="ple_140.016"/> und die Gesetze des wahren Epos zu erkennen und mit dem Anspruch <lb n="ple_140.017"/> auf absolute und dauernde Geltung abzuleiten sind. Es ist von hohem <lb n="ple_140.018"/> Interesse, zu verfolgen, durch welche Faktoren dieses Werturteil, das heute <lb n="ple_140.019"/> noch auf unseren Gymnasien wie in unserer ästhetischen Theorie herrscht, <lb n="ple_140.020"/> entstanden und zur unbestrittenen Herrschaft gelangt ist. Zuerst war es offenbar <lb n="ple_140.021"/> der einheitliche und organische Charakter des künstlerischen Stils, was <lb n="ple_140.022"/> die Pfadfinder des deutschen Klassizismus ergriff und gefangen hielt. Eben <lb n="ple_140.023"/> ein solcher Stil war es ja, den sie für die deutsche Dichtung suchten und <lb n="ple_140.024"/> in der Zerfahrenheit der einheimischen Überlieferung, in der Nachahmung der <lb n="ple_140.025"/> verschiedenen modernen Literaturen nicht zu finden vermochten. Deshalb <lb n="ple_140.026"/> verwandte Klopstock die homerische Form für sein christliches Epos, <lb n="ple_140.027"/> und Lessing orientierte seine Kritik der epischen Darstellungsweise an der <lb n="ple_140.028"/> Methode Homers. Mit der jüngeren Generation aber, mit Herder, Goethe, <lb n="ple_140.029"/> Schiller kommt ein zweites, ganz anders geartetes Element in die Beurteilung: <lb n="ple_140.030"/> der moralische oder auch kulturphilosophische Gesichtspunkt. <lb n="ple_140.031"/> Ihnen sind diese Gesänge vor allem die Erzeugnisse einer primitiven <lb n="ple_140.032"/> Epoche der Menschheit und in ihrem, durch Rousseau angeregten, enthusiastischen <lb n="ple_140.033"/> Glauben an den idealen Wert des Naturzustandes und des <lb n="ple_140.034"/> natürlichen Menschen, finden sie im Homer und nur hier das reine und <lb n="ple_140.035"/> wahre Menschentum in einer ebenso reinen und natürlichen künstlerischen <lb n="ple_140.036"/> Darstellung. Aus den ungebrochenen Instinkten der homerischen Helden <lb n="ple_140.037"/> konstruiert Schillers moralisch-ästhetische Spekulation die absolute Verkörperung <lb n="ple_140.038"/> der Harmonie zwischen Geist und Natur, und selbst die Roheit, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [140/0154]
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sich vor ihm aufbaut. Solange ich mir bewußt bin, daß ich im Theater ple_140.002
sitze oder ein Buch in der Hand habe, ist die höchste Wirkung nicht erreicht. 1)
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Wenden wir uns nun zuerst der epischen Dichtung zu und suchen ple_140.005
wir festzustellen, worin das Wesen dieser Gattung besteht, so tritt uns eine ple_140.006
Reihe von falschen oder doch schiefen Vorstellungen hinderlich in den Weg, ple_140.007
die sich durch das ganze Jahrhundert, das seit dem Höhepunkt unserer ple_140.008
klassischen Dichtung vergangen ist, hindurchziehen. Denn in seltsamer ple_140.009
Weise ist die Theorie des Epos durch vorgefaßte Meinungen und moralische ple_140.010
Anschauungen getrübt und verwirrt worden, und unsere großen ple_140.011
Dichter selbst sind nicht ohne Schuld daran. Die einseitige Schätzung ple_140.012
des Griechentums, die ganze absolut wertende Methode, welche die Poetik ple_140.013
der klassischen Epoche beherrschte, tritt in ihren Ursachen wie ihren ple_140.014
Folgen nirgends so klar zutage wie hier. Seit Lessings Laokoon erscheint ple_140.015
es als ein unerschütterliches Dogma, daß nur aus dem Homer das Wesen ple_140.016
und die Gesetze des wahren Epos zu erkennen und mit dem Anspruch ple_140.017
auf absolute und dauernde Geltung abzuleiten sind. Es ist von hohem ple_140.018
Interesse, zu verfolgen, durch welche Faktoren dieses Werturteil, das heute ple_140.019
noch auf unseren Gymnasien wie in unserer ästhetischen Theorie herrscht, ple_140.020
entstanden und zur unbestrittenen Herrschaft gelangt ist. Zuerst war es offenbar ple_140.021
der einheitliche und organische Charakter des künstlerischen Stils, was ple_140.022
die Pfadfinder des deutschen Klassizismus ergriff und gefangen hielt. Eben ple_140.023
ein solcher Stil war es ja, den sie für die deutsche Dichtung suchten und ple_140.024
in der Zerfahrenheit der einheimischen Überlieferung, in der Nachahmung der ple_140.025
verschiedenen modernen Literaturen nicht zu finden vermochten. Deshalb ple_140.026
verwandte Klopstock die homerische Form für sein christliches Epos, ple_140.027
und Lessing orientierte seine Kritik der epischen Darstellungsweise an der ple_140.028
Methode Homers. Mit der jüngeren Generation aber, mit Herder, Goethe, ple_140.029
Schiller kommt ein zweites, ganz anders geartetes Element in die Beurteilung: ple_140.030
der moralische oder auch kulturphilosophische Gesichtspunkt. ple_140.031
Ihnen sind diese Gesänge vor allem die Erzeugnisse einer primitiven ple_140.032
Epoche der Menschheit und in ihrem, durch Rousseau angeregten, enthusiastischen ple_140.033
Glauben an den idealen Wert des Naturzustandes und des ple_140.034
natürlichen Menschen, finden sie im Homer und nur hier das reine und ple_140.035
wahre Menschentum in einer ebenso reinen und natürlichen künstlerischen ple_140.036
Darstellung. Aus den ungebrochenen Instinkten der homerischen Helden ple_140.037
konstruiert Schillers moralisch-ästhetische Spekulation die absolute Verkörperung ple_140.038
der Harmonie zwischen Geist und Natur, und selbst die Roheit,
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Es ist hier nicht die Stelle, zu erörtern, wie weit diese Sätze, die der herkömmlichen ple_140.040
Aufassung entsprechen, im Widerspruch zu der „Illusionstheorie“ stehen, die ple_140.041
Konrad Lange in seinem Buche „Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer realistischen ple_140.042
Kunstlehre“ aufgestellt hat, und wie weit sie etwa mit Langes Auffassung vereinbar wären. ple_140.043
Hingewiesen möge jedenfalls auf das geistvolle Werk hier werden.
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