Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_141.001 ple_141.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0155" n="141"/><lb n="ple_141.001"/> die ungebändigte Selbstsucht, mit der diese Instinkte sich äußern, verhindern <lb n="ple_141.002"/> ihn nicht, eine Art von höherer Sittlichkeit gegenüber dem modernen <lb n="ple_141.003"/> Leben hier verkörpert zu finden. Der Irrtum eines Zeitalters, dem der <lb n="ple_141.004"/> historische Sinn mangelte, ist begreiflich: durch die Entfernung wird der <lb n="ple_141.005"/> Blick geblendet; Begebnisse, die sich auch im modernen Leben abspielen <lb n="ple_141.006"/> können und oft genug abgespielt haben, wie z. B., daß der gefährdet <lb n="ple_141.007"/> heimkehrende Herr der heimliche Gast seines treuen alten Dieners ist, erschienen <lb n="ple_141.008"/> nun als ein einzigartiger Ausfluß höchster Sittlichkeit, die keinen <lb n="ple_141.009"/> Standesunterschied kennt. Naivität in der Äußerung des Gefühls, die der <lb n="ple_141.010"/> Süden Europas noch heute jedem Reisenden sichtbar darbietet, galten <lb n="ple_141.011"/> dem Nordländer als eine Offenbarung der Natur, die nur vor Tausenden <lb n="ple_141.012"/> von Jahren möglich war, — wie denn auch heute noch in unserer Auffassung <lb n="ple_141.013"/> der Antike vieles dem Zeitunterschied zugeschoben wird, was tatsächlich <lb n="ple_141.014"/> auf Rechnung des Breitengrades zu setzen ist. Diese Beurteilung <lb n="ple_141.015"/> des Inhalts wirkte auf das Werturteil über die Form zurück und trieb es <lb n="ple_141.016"/> noch mehr in eine einseitige Höhe: die Mängel, die besonders der Ilias <lb n="ple_141.017"/> infolge ihrer Entstehungsweise anhaften, wie die endlosen Wiederholungen <lb n="ple_141.018"/> und Variationen des Zweikampfmotivs, das Unbefriedigende des Schlusses <lb n="ple_141.019"/> und überhaupt das Episodische der Handlung wurden nicht übersehen, <lb n="ple_141.020"/> sondern geradezu als Vorzüge betrachtet, die das Ideal des Epos konstruieren <lb n="ple_141.021"/> sollten. Geschichtliche und philosophische Kritik haben längst <lb n="ple_141.022"/> gezeigt, daß alle Voraussetzungen jener absoluten Schätzung irrtümlich <lb n="ple_141.023"/> sind, daß die homerischen Gedichte, wiewohl sie allezeit zu den wertvollsten <lb n="ple_141.024"/> Erzeugnissen der Poesie gehören werden, weder eine ursprüngliche <lb n="ple_141.025"/> Offenbarung der Natur noch auch nur in ihren einzelnen Bestandteilen <lb n="ple_141.026"/> künstlerisch gleichwertig sind, daß die Menschen, deren Handlungen <lb n="ple_141.027"/> und Erlebnisse darin geschildert werden, durchaus historisch bedingt und <lb n="ple_141.028"/> eng genug begrenzt sind. Trotzdem steht das Dogma der Wertherperiode <lb n="ple_141.029"/> heute noch in Geltung. Denn auch die Romantiker, die in so manchen <lb n="ple_141.030"/> anderen Punkten die Einseitigkeit des Klassizismus berichtigten und ausglichen, <lb n="ple_141.031"/> haben in diesem gemeinsame Sache mit ihm gemacht. Es war <lb n="ple_141.032"/> besonders ihre Verehrung der Volkspoesie, ihre mystische Vorstellung <lb n="ple_141.033"/> von der schöpferisch träumenden Phantasie des Volksgeistes, die ihnen <lb n="ple_141.034"/> den Blick trübte. So kam es, daß sie in ihren Bemühungen, den absoluten <lb n="ple_141.035"/> Charakter des wahren Epos aus den homerischen Dichtungen abzuleiten, <lb n="ple_141.036"/> den klassisch gerichteten Ästhetikern zur Seite traten und mit <lb n="ple_141.037"/> ihnen zugleich der epischen Theorie die Richtung gaben. Nicht einmal <lb n="ple_141.038"/> die eingehendere Beschäftigung mit dem deutschen Volksepos hat ihnen <lb n="ple_141.039"/> den Blick wesentlich erweitert. Friedrich Schlegel fast gleichzeitig mit <lb n="ple_141.040"/> Wilhelm v. Humboldt und ein bis zwei Menschenalter später Wackernagel <lb n="ple_141.041"/> wie Friedrich Vischer verfolgen in dieser Hinsicht die gleiche Methode. <lb n="ple_141.042"/> Ja, noch ein moderner Schriftsteller wie Friedrich <hi rendition="#g">Spielhagen,</hi> dessen <lb n="ple_141.043"/> Beiträge zur Theorie des Romans und des Epos das belehrendste sind, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [141/0155]
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die ungebändigte Selbstsucht, mit der diese Instinkte sich äußern, verhindern ple_141.002
ihn nicht, eine Art von höherer Sittlichkeit gegenüber dem modernen ple_141.003
Leben hier verkörpert zu finden. Der Irrtum eines Zeitalters, dem der ple_141.004
historische Sinn mangelte, ist begreiflich: durch die Entfernung wird der ple_141.005
Blick geblendet; Begebnisse, die sich auch im modernen Leben abspielen ple_141.006
können und oft genug abgespielt haben, wie z. B., daß der gefährdet ple_141.007
heimkehrende Herr der heimliche Gast seines treuen alten Dieners ist, erschienen ple_141.008
nun als ein einzigartiger Ausfluß höchster Sittlichkeit, die keinen ple_141.009
Standesunterschied kennt. Naivität in der Äußerung des Gefühls, die der ple_141.010
Süden Europas noch heute jedem Reisenden sichtbar darbietet, galten ple_141.011
dem Nordländer als eine Offenbarung der Natur, die nur vor Tausenden ple_141.012
von Jahren möglich war, — wie denn auch heute noch in unserer Auffassung ple_141.013
der Antike vieles dem Zeitunterschied zugeschoben wird, was tatsächlich ple_141.014
auf Rechnung des Breitengrades zu setzen ist. Diese Beurteilung ple_141.015
des Inhalts wirkte auf das Werturteil über die Form zurück und trieb es ple_141.016
noch mehr in eine einseitige Höhe: die Mängel, die besonders der Ilias ple_141.017
infolge ihrer Entstehungsweise anhaften, wie die endlosen Wiederholungen ple_141.018
und Variationen des Zweikampfmotivs, das Unbefriedigende des Schlusses ple_141.019
und überhaupt das Episodische der Handlung wurden nicht übersehen, ple_141.020
sondern geradezu als Vorzüge betrachtet, die das Ideal des Epos konstruieren ple_141.021
sollten. Geschichtliche und philosophische Kritik haben längst ple_141.022
gezeigt, daß alle Voraussetzungen jener absoluten Schätzung irrtümlich ple_141.023
sind, daß die homerischen Gedichte, wiewohl sie allezeit zu den wertvollsten ple_141.024
Erzeugnissen der Poesie gehören werden, weder eine ursprüngliche ple_141.025
Offenbarung der Natur noch auch nur in ihren einzelnen Bestandteilen ple_141.026
künstlerisch gleichwertig sind, daß die Menschen, deren Handlungen ple_141.027
und Erlebnisse darin geschildert werden, durchaus historisch bedingt und ple_141.028
eng genug begrenzt sind. Trotzdem steht das Dogma der Wertherperiode ple_141.029
heute noch in Geltung. Denn auch die Romantiker, die in so manchen ple_141.030
anderen Punkten die Einseitigkeit des Klassizismus berichtigten und ausglichen, ple_141.031
haben in diesem gemeinsame Sache mit ihm gemacht. Es war ple_141.032
besonders ihre Verehrung der Volkspoesie, ihre mystische Vorstellung ple_141.033
von der schöpferisch träumenden Phantasie des Volksgeistes, die ihnen ple_141.034
den Blick trübte. So kam es, daß sie in ihren Bemühungen, den absoluten ple_141.035
Charakter des wahren Epos aus den homerischen Dichtungen abzuleiten, ple_141.036
den klassisch gerichteten Ästhetikern zur Seite traten und mit ple_141.037
ihnen zugleich der epischen Theorie die Richtung gaben. Nicht einmal ple_141.038
die eingehendere Beschäftigung mit dem deutschen Volksepos hat ihnen ple_141.039
den Blick wesentlich erweitert. Friedrich Schlegel fast gleichzeitig mit ple_141.040
Wilhelm v. Humboldt und ein bis zwei Menschenalter später Wackernagel ple_141.041
wie Friedrich Vischer verfolgen in dieser Hinsicht die gleiche Methode. ple_141.042
Ja, noch ein moderner Schriftsteller wie Friedrich Spielhagen, dessen ple_141.043
Beiträge zur Theorie des Romans und des Epos das belehrendste sind,
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