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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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fußend, zum zweiten allgemeinen Gesetz des Epos erhoben hat? Zunächst, ple_146.002
sehen wir, wird sie von einigen bedeutenden Theoretikern dahin verstanden, ple_146.003
daß der Dichter der Epopöe, weil er mitten in einem ungebrochnen und ple_146.004
einheitlichen Volksleben steht, auch immer nur aus diesem Volksleben ple_146.005
heraus dichtet und denkt und daher als Individuum nicht hervortritt. "Da ple_146.006
das Zeitalter der Nation, in welches die Entwicklung des Epos fällt, eben ple_146.007
ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist; da zu dieser Zeit die ple_146.008
Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehen, sondern im Volke und ple_146.009
durch das Volk als untrennbare Glieder desselben leben und wirken: so ple_146.010
können auch die altepischen Anschaungen nicht das Werk eines in vereinzelter ple_146.011
Tätigkeit dastehenden Dichtergeistes sein: sie sind Anschauungen ple_146.012
des gesamten Volkes; nicht Einer, sondern die ganze Nation ist der Dichter ple_146.013
gewesen. Natürlich kann jede Schöpfung zuerst nur auf einem Punkte ple_146.014
entsprungen sein; einen ersten Dichter muß jede Sage, jedes Märchen besessen ple_146.015
haben: aber dieser Eine schuf aus der Seele des Volkes, nicht als ple_146.016
Einer, sondern nur als Organ und als zufälliges Organ der Gesamtheit." ple_146.017
So Wackernagel (Poetik S. 57 f.). Und Spielhagen: "Bei dem Dichter der ple_146.018
homerischen Zeit kann von einer Welt- und Lebensanschauung, die nur ple_146.019
ihm eignete, nicht die Rede sein. Er ist, wie ich es an einer andern Stelle ple_146.020
ausgedrückt habe, nicht sowohl der dichterische Mund seines Volkes als der ple_146.021
Mund seines dichterischen Volkes." (Beiträge S. 143). "Und wenn wir nun ple_146.022
auch so unsere obige Behauptung, daß die homerischen Gedichte ein volles ple_146.023
Weltbild geben, dahin werden einzuschränken haben, daß es ein Bild der ple_146.024
Welt, angeschaut durch das Griechenauge, so ist doch diese nationale Einseitigkeit ple_146.025
himmelweit verschieden von jener individuellen, zu welcher der ple_146.026
moderne epische Dichter ein für allemal verurteilt ist." (S. 141 f.) Tatsächlich ple_146.027
ist die Auffassung der Dichter des Volksepos nicht so ausschließlich, ple_146.028
wie hier behauptet wird, durch nationale, sondern, wie namentlich ple_146.029
in der Ilias deutlich ist, auch durch soziale Schranken begrenzt und ple_146.030
bedingt. Es ist die Gesinnung und Lebensanschauung der aristokratischen ple_146.031
Klassen des damaligen Griechenlands, die darin zu Worte kommt. Im ple_146.032
übrigen aber haben beide Beurteiler recht, wenn sie in dieser Gebundenheit ple_146.033
des Individuums einen charakteristischen Zug, ja, mehr als das, die entscheidende ple_146.034
Lebensbedingung des Volksepos überhaupt erkennen: eben weil ple_146.035
mit fortschreitender Kulturentwicklung diese Gebundenheit stets einer ple_146.036
freieren Entfaltung der Individualität Platz macht und die Einheit des ple_146.037
Volksinstinktes stets mehr oder weniger vielfältig gespalten wird, deshalb ple_146.038
kann das Volksepos nur auf verhältnismäßig früher und bestimmt begrenzter ple_146.039
Entwicklungsstufe entstehen und blühen und ist unter modernen ple_146.040
Lebensverhältnissen ein für allemal unmöglich. Allein so richtig das ist, ple_146.041
so ist die Abhängigkeit des Einzelnen vom Geist der Gesamtheit zwar ple_146.042
für die Entstehungsweise des Volksepos und seine kultur- oder sozialgeschichtliche ple_146.043
Bedeutung, nicht aber für das künstlerische Wesen der epischen

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fußend, zum zweiten allgemeinen Gesetz des Epos erhoben hat? Zunächst, ple_146.002
sehen wir, wird sie von einigen bedeutenden Theoretikern dahin verstanden, ple_146.003
daß der Dichter der Epopöe, weil er mitten in einem ungebrochnen und ple_146.004
einheitlichen Volksleben steht, auch immer nur aus diesem Volksleben ple_146.005
heraus dichtet und denkt und daher als Individuum nicht hervortritt. „Da ple_146.006
das Zeitalter der Nation, in welches die Entwicklung des Epos fällt, eben ple_146.007
ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist; da zu dieser Zeit die ple_146.008
Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehen, sondern im Volke und ple_146.009
durch das Volk als untrennbare Glieder desselben leben und wirken: so ple_146.010
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Tätigkeit dastehenden Dichtergeistes sein: sie sind Anschauungen ple_146.012
des gesamten Volkes; nicht Einer, sondern die ganze Nation ist der Dichter ple_146.013
gewesen. Natürlich kann jede Schöpfung zuerst nur auf einem Punkte ple_146.014
entsprungen sein; einen ersten Dichter muß jede Sage, jedes Märchen besessen ple_146.015
haben: aber dieser Eine schuf aus der Seele des Volkes, nicht als ple_146.016
Einer, sondern nur als Organ und als zufälliges Organ der Gesamtheit.“ ple_146.017
So Wackernagel (Poetik S. 57 f.). Und Spielhagen: „Bei dem Dichter der ple_146.018
homerischen Zeit kann von einer Welt- und Lebensanschauung, die nur ple_146.019
ihm eignete, nicht die Rede sein. Er ist, wie ich es an einer andern Stelle ple_146.020
ausgedrückt habe, nicht sowohl der dichterische Mund seines Volkes als der ple_146.021
Mund seines dichterischen Volkes.“ (Beiträge S. 143). „Und wenn wir nun ple_146.022
auch so unsere obige Behauptung, daß die homerischen Gedichte ein volles ple_146.023
Weltbild geben, dahin werden einzuschränken haben, daß es ein Bild der ple_146.024
Welt, angeschaut durch das Griechenauge, so ist doch diese nationale Einseitigkeit ple_146.025
himmelweit verschieden von jener individuellen, zu welcher der ple_146.026
moderne epische Dichter ein für allemal verurteilt ist.“ (S. 141 f.) Tatsächlich ple_146.027
ist die Auffassung der Dichter des Volksepos nicht so ausschließlich, ple_146.028
wie hier behauptet wird, durch nationale, sondern, wie namentlich ple_146.029
in der Ilias deutlich ist, auch durch soziale Schranken begrenzt und ple_146.030
bedingt. Es ist die Gesinnung und Lebensanschauung der aristokratischen ple_146.031
Klassen des damaligen Griechenlands, die darin zu Worte kommt. Im ple_146.032
übrigen aber haben beide Beurteiler recht, wenn sie in dieser Gebundenheit ple_146.033
des Individuums einen charakteristischen Zug, ja, mehr als das, die entscheidende ple_146.034
Lebensbedingung des Volksepos überhaupt erkennen: eben weil ple_146.035
mit fortschreitender Kulturentwicklung diese Gebundenheit stets einer ple_146.036
freieren Entfaltung der Individualität Platz macht und die Einheit des ple_146.037
Volksinstinktes stets mehr oder weniger vielfältig gespalten wird, deshalb ple_146.038
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Entwicklungsstufe entstehen und blühen und ist unter modernen ple_146.040
Lebensverhältnissen ein für allemal unmöglich. Allein so richtig das ist, ple_146.041
so ist die Abhängigkeit des Einzelnen vom Geist der Gesamtheit zwar ple_146.042
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[146/0160] ple_146.001 fußend, zum zweiten allgemeinen Gesetz des Epos erhoben hat? Zunächst, ple_146.002 sehen wir, wird sie von einigen bedeutenden Theoretikern dahin verstanden, ple_146.003 daß der Dichter der Epopöe, weil er mitten in einem ungebrochnen und ple_146.004 einheitlichen Volksleben steht, auch immer nur aus diesem Volksleben ple_146.005 heraus dichtet und denkt und daher als Individuum nicht hervortritt. „Da ple_146.006 das Zeitalter der Nation, in welches die Entwicklung des Epos fällt, eben ple_146.007 ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist; da zu dieser Zeit die ple_146.008 Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehen, sondern im Volke und ple_146.009 durch das Volk als untrennbare Glieder desselben leben und wirken: so ple_146.010 können auch die altepischen Anschaungen nicht das Werk eines in vereinzelter ple_146.011 Tätigkeit dastehenden Dichtergeistes sein: sie sind Anschauungen ple_146.012 des gesamten Volkes; nicht Einer, sondern die ganze Nation ist der Dichter ple_146.013 gewesen. Natürlich kann jede Schöpfung zuerst nur auf einem Punkte ple_146.014 entsprungen sein; einen ersten Dichter muß jede Sage, jedes Märchen besessen ple_146.015 haben: aber dieser Eine schuf aus der Seele des Volkes, nicht als ple_146.016 Einer, sondern nur als Organ und als zufälliges Organ der Gesamtheit.“ ple_146.017 So Wackernagel (Poetik S. 57 f.). Und Spielhagen: „Bei dem Dichter der ple_146.018 homerischen Zeit kann von einer Welt- und Lebensanschauung, die nur ple_146.019 ihm eignete, nicht die Rede sein. Er ist, wie ich es an einer andern Stelle ple_146.020 ausgedrückt habe, nicht sowohl der dichterische Mund seines Volkes als der ple_146.021 Mund seines dichterischen Volkes.“ (Beiträge S. 143). „Und wenn wir nun ple_146.022 auch so unsere obige Behauptung, daß die homerischen Gedichte ein volles ple_146.023 Weltbild geben, dahin werden einzuschränken haben, daß es ein Bild der ple_146.024 Welt, angeschaut durch das Griechenauge, so ist doch diese nationale Einseitigkeit ple_146.025 himmelweit verschieden von jener individuellen, zu welcher der ple_146.026 moderne epische Dichter ein für allemal verurteilt ist.“ (S. 141 f.) Tatsächlich ple_146.027 ist die Auffassung der Dichter des Volksepos nicht so ausschließlich, ple_146.028 wie hier behauptet wird, durch nationale, sondern, wie namentlich ple_146.029 in der Ilias deutlich ist, auch durch soziale Schranken begrenzt und ple_146.030 bedingt. Es ist die Gesinnung und Lebensanschauung der aristokratischen ple_146.031 Klassen des damaligen Griechenlands, die darin zu Worte kommt. Im ple_146.032 übrigen aber haben beide Beurteiler recht, wenn sie in dieser Gebundenheit ple_146.033 des Individuums einen charakteristischen Zug, ja, mehr als das, die entscheidende ple_146.034 Lebensbedingung des Volksepos überhaupt erkennen: eben weil ple_146.035 mit fortschreitender Kulturentwicklung diese Gebundenheit stets einer ple_146.036 freieren Entfaltung der Individualität Platz macht und die Einheit des ple_146.037 Volksinstinktes stets mehr oder weniger vielfältig gespalten wird, deshalb ple_146.038 kann das Volksepos nur auf verhältnismäßig früher und bestimmt begrenzter ple_146.039 Entwicklungsstufe entstehen und blühen und ist unter modernen ple_146.040 Lebensverhältnissen ein für allemal unmöglich. Allein so richtig das ist, ple_146.041 so ist die Abhängigkeit des Einzelnen vom Geist der Gesamtheit zwar ple_146.042 für die Entstehungsweise des Volksepos und seine kultur- oder sozialgeschichtliche ple_146.043 Bedeutung, nicht aber für das künstlerische Wesen der epischen

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/160>, abgerufen am 21.11.2024.