Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_146.001 ple_146.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0160" n="146"/><lb n="ple_146.001"/> fußend, zum zweiten allgemeinen Gesetz des Epos erhoben hat? Zunächst, <lb n="ple_146.002"/> sehen wir, wird sie von einigen bedeutenden Theoretikern dahin verstanden, <lb n="ple_146.003"/> daß der Dichter der Epopöe, weil er mitten in einem ungebrochnen und <lb n="ple_146.004"/> einheitlichen Volksleben steht, auch immer nur aus diesem Volksleben <lb n="ple_146.005"/> heraus dichtet und denkt und daher als Individuum nicht hervortritt. „Da <lb n="ple_146.006"/> das Zeitalter der Nation, in welches die Entwicklung des Epos fällt, eben <lb n="ple_146.007"/> ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist; da zu dieser Zeit die <lb n="ple_146.008"/> Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehen, sondern im Volke und <lb n="ple_146.009"/> durch das Volk als untrennbare Glieder desselben leben und wirken: so <lb n="ple_146.010"/> können auch die altepischen Anschaungen nicht das Werk eines in vereinzelter <lb n="ple_146.011"/> Tätigkeit dastehenden Dichtergeistes sein: sie sind Anschauungen <lb n="ple_146.012"/> des gesamten Volkes; nicht Einer, sondern die ganze Nation ist der Dichter <lb n="ple_146.013"/> gewesen. Natürlich kann jede Schöpfung zuerst nur auf einem Punkte <lb n="ple_146.014"/> entsprungen sein; einen ersten Dichter muß jede Sage, jedes Märchen besessen <lb n="ple_146.015"/> haben: aber dieser Eine schuf aus der Seele des Volkes, nicht als <lb n="ple_146.016"/> Einer, sondern nur als Organ und als zufälliges Organ der Gesamtheit.“ <lb n="ple_146.017"/> So Wackernagel (Poetik S. 57 f.). Und Spielhagen: „Bei dem Dichter der <lb n="ple_146.018"/> homerischen Zeit kann von einer Welt- und Lebensanschauung, die nur <lb n="ple_146.019"/> ihm eignete, nicht die Rede sein. Er ist, wie ich es an einer andern Stelle <lb n="ple_146.020"/> ausgedrückt habe, nicht sowohl der dichterische Mund seines Volkes als der <lb n="ple_146.021"/> Mund seines dichterischen Volkes.“ (Beiträge S. 143). „Und wenn wir nun <lb n="ple_146.022"/> auch so unsere obige Behauptung, daß die homerischen Gedichte ein volles <lb n="ple_146.023"/> Weltbild geben, dahin werden einzuschränken haben, daß es ein Bild der <lb n="ple_146.024"/> Welt, angeschaut durch das Griechenauge, so ist doch diese nationale Einseitigkeit <lb n="ple_146.025"/> himmelweit verschieden von jener individuellen, zu welcher der <lb n="ple_146.026"/> moderne epische Dichter ein für allemal verurteilt ist.“ (S. 141 f.) Tatsächlich <lb n="ple_146.027"/> ist die Auffassung der Dichter des Volksepos nicht so ausschließlich, <lb n="ple_146.028"/> wie hier behauptet wird, durch nationale, sondern, wie namentlich <lb n="ple_146.029"/> in der Ilias deutlich ist, auch durch soziale Schranken begrenzt und <lb n="ple_146.030"/> bedingt. Es ist die Gesinnung und Lebensanschauung der aristokratischen <lb n="ple_146.031"/> Klassen des damaligen Griechenlands, die darin zu Worte kommt. Im <lb n="ple_146.032"/> übrigen aber haben beide Beurteiler recht, wenn sie in dieser Gebundenheit <lb n="ple_146.033"/> des Individuums einen charakteristischen Zug, ja, mehr als das, die entscheidende <lb n="ple_146.034"/> Lebensbedingung des Volksepos überhaupt erkennen: eben weil <lb n="ple_146.035"/> mit fortschreitender Kulturentwicklung diese Gebundenheit stets einer <lb n="ple_146.036"/> freieren Entfaltung der Individualität Platz macht und die Einheit des <lb n="ple_146.037"/> Volksinstinktes stets mehr oder weniger vielfältig gespalten wird, deshalb <lb n="ple_146.038"/> kann das Volksepos nur auf verhältnismäßig früher und bestimmt begrenzter <lb n="ple_146.039"/> Entwicklungsstufe entstehen und blühen und ist unter modernen <lb n="ple_146.040"/> Lebensverhältnissen ein für allemal unmöglich. Allein so richtig das ist, <lb n="ple_146.041"/> so ist die Abhängigkeit des Einzelnen vom Geist der Gesamtheit zwar <lb n="ple_146.042"/> für die Entstehungsweise des Volksepos und seine kultur- oder sozialgeschichtliche <lb n="ple_146.043"/> Bedeutung, nicht aber für das künstlerische Wesen der epischen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [146/0160]
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fußend, zum zweiten allgemeinen Gesetz des Epos erhoben hat? Zunächst, ple_146.002
sehen wir, wird sie von einigen bedeutenden Theoretikern dahin verstanden, ple_146.003
daß der Dichter der Epopöe, weil er mitten in einem ungebrochnen und ple_146.004
einheitlichen Volksleben steht, auch immer nur aus diesem Volksleben ple_146.005
heraus dichtet und denkt und daher als Individuum nicht hervortritt. „Da ple_146.006
das Zeitalter der Nation, in welches die Entwicklung des Epos fällt, eben ple_146.007
ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist; da zu dieser Zeit die ple_146.008
Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehen, sondern im Volke und ple_146.009
durch das Volk als untrennbare Glieder desselben leben und wirken: so ple_146.010
können auch die altepischen Anschaungen nicht das Werk eines in vereinzelter ple_146.011
Tätigkeit dastehenden Dichtergeistes sein: sie sind Anschauungen ple_146.012
des gesamten Volkes; nicht Einer, sondern die ganze Nation ist der Dichter ple_146.013
gewesen. Natürlich kann jede Schöpfung zuerst nur auf einem Punkte ple_146.014
entsprungen sein; einen ersten Dichter muß jede Sage, jedes Märchen besessen ple_146.015
haben: aber dieser Eine schuf aus der Seele des Volkes, nicht als ple_146.016
Einer, sondern nur als Organ und als zufälliges Organ der Gesamtheit.“ ple_146.017
So Wackernagel (Poetik S. 57 f.). Und Spielhagen: „Bei dem Dichter der ple_146.018
homerischen Zeit kann von einer Welt- und Lebensanschauung, die nur ple_146.019
ihm eignete, nicht die Rede sein. Er ist, wie ich es an einer andern Stelle ple_146.020
ausgedrückt habe, nicht sowohl der dichterische Mund seines Volkes als der ple_146.021
Mund seines dichterischen Volkes.“ (Beiträge S. 143). „Und wenn wir nun ple_146.022
auch so unsere obige Behauptung, daß die homerischen Gedichte ein volles ple_146.023
Weltbild geben, dahin werden einzuschränken haben, daß es ein Bild der ple_146.024
Welt, angeschaut durch das Griechenauge, so ist doch diese nationale Einseitigkeit ple_146.025
himmelweit verschieden von jener individuellen, zu welcher der ple_146.026
moderne epische Dichter ein für allemal verurteilt ist.“ (S. 141 f.) Tatsächlich ple_146.027
ist die Auffassung der Dichter des Volksepos nicht so ausschließlich, ple_146.028
wie hier behauptet wird, durch nationale, sondern, wie namentlich ple_146.029
in der Ilias deutlich ist, auch durch soziale Schranken begrenzt und ple_146.030
bedingt. Es ist die Gesinnung und Lebensanschauung der aristokratischen ple_146.031
Klassen des damaligen Griechenlands, die darin zu Worte kommt. Im ple_146.032
übrigen aber haben beide Beurteiler recht, wenn sie in dieser Gebundenheit ple_146.033
des Individuums einen charakteristischen Zug, ja, mehr als das, die entscheidende ple_146.034
Lebensbedingung des Volksepos überhaupt erkennen: eben weil ple_146.035
mit fortschreitender Kulturentwicklung diese Gebundenheit stets einer ple_146.036
freieren Entfaltung der Individualität Platz macht und die Einheit des ple_146.037
Volksinstinktes stets mehr oder weniger vielfältig gespalten wird, deshalb ple_146.038
kann das Volksepos nur auf verhältnismäßig früher und bestimmt begrenzter ple_146.039
Entwicklungsstufe entstehen und blühen und ist unter modernen ple_146.040
Lebensverhältnissen ein für allemal unmöglich. Allein so richtig das ist, ple_146.041
so ist die Abhängigkeit des Einzelnen vom Geist der Gesamtheit zwar ple_146.042
für die Entstehungsweise des Volksepos und seine kultur- oder sozialgeschichtliche ple_146.043
Bedeutung, nicht aber für das künstlerische Wesen der epischen
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