Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_147.001 ple_147.005 ple_147.033 ple_147.001 ple_147.005 ple_147.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0161" n="147"/><lb n="ple_147.001"/> Dichtung entscheidend. Vielmehr macht es in letzterer Hinsicht offenbar <lb n="ple_147.002"/> gar keinen Unterschied, ob der Dichter aus persönlichen Meinungen und <lb n="ple_147.003"/> Empfindungen oder aus denen seines Volkes heraus seine Gegenstände <lb n="ple_147.004"/> betrachtet und darstellt.</p> <p><lb n="ple_147.005"/> Etwas anderes nun aber als diese vermeintliche Objektivität der <lb n="ple_147.006"/> Anschauung ist die Unpersönlichkeit der Darstellungsweise. Es liegt im <lb n="ple_147.007"/> Wesen der gegenständlichen Dichtung, daß der Dichter hinter seinen <lb n="ple_147.008"/> Gegenstand verschwindet: das Hervortreten seiner Persönlichkeit mit <lb n="ple_147.009"/> ihren Gedanken und Empfindungen unterbricht die Kontinuität der Darstellung <lb n="ple_147.010"/> und wirkt wie ein Eingriff in die gegenständliche Welt, die er <lb n="ple_147.011"/> gestalten und beleben will. Friedrich Schlegel hatte also recht, wenn er <lb n="ple_147.012"/> jedes derartige Hervortreten als eine unangenehme Störung verurteilt, <lb n="ple_147.013"/> und ebenso ist Friedrich Spielhagen im Recht, wenn er unter Berufung <lb n="ple_147.014"/> auf ihn sich vor allem dagegen wendet, daß der Dichter statt der unmittelbaren <lb n="ple_147.015"/> Anschauung von Menschen und Handlungen seine Reflexion <lb n="ple_147.016"/> über dieselben darstellt, wenn er statt lebendiger Charaktere, die sich <lb n="ple_147.017"/> vor unsern Augen entwickeln, Charakteristiken gibt. (Beiträge S. 68 f.) <lb n="ple_147.018"/> Die Forderung der Unpersönlichkeit in diesem Sinne ist zweifellos berechtigt, <lb n="ple_147.019"/> aber freilich im Epos nicht mehr und nicht weniger wie im <lb n="ple_147.020"/> Drama; und wenn sie dem epischen Dichter gegenüber stärker hervorgehoben <lb n="ple_147.021"/> wird als dem dramatischen, so ist das nur deshalb angebracht, <lb n="ple_147.022"/> weil dieser leichter als jener dagegen verstößt. Denn die technische Möglichkeit, <lb n="ple_147.023"/> persönlich hervorzutreten, ist dem Erzähler jeden Augenblick gegeben, <lb n="ple_147.024"/> dem Dramatiker aber nur da, wo er allgemeine Gedanken ausspricht <lb n="ple_147.025"/> oder allenfalls, wo er verstandesmäßig motiviert. Ja, man darf <lb n="ple_147.026"/> sagen, daß dieser Fehler beim Dramatiker weit größer ist, weil er notwendigerweise <lb n="ple_147.027"/> die Illusion völlig zerstört und aufhebt, während das beim <lb n="ple_147.028"/> Epiker nicht ebenso unausbleiblich ist. Er kann sich unter Umständen, <lb n="ple_147.029"/> wie z. B. zahlreiche Stellen des mittelhochdeutschen ritterlichen Epos beweisen, <lb n="ple_147.030"/> gelegentlich ganz wohl als Betrachter oder Erzähler einführen, <lb n="ple_147.031"/> wenn er nur nicht durch Moralisieren oder altkluges Erklären den Eindruck <lb n="ple_147.032"/> stört oder nicht etwa gar Betrachtungen an die Stelle der Erzählung setzt.</p> <p><lb n="ple_147.033"/> Im übrigen aber ist es doch auch hier eine Übertreibung, wenn man <lb n="ple_147.034"/> behauptet, daß der epische Dichter seinem Gefühl und seinem Urteil keinerlei <lb n="ple_147.035"/> Einfluß auf seine Darstellung verstatte, daß er seinen Helden und ihren <lb n="ple_147.036"/> Erlebnissen kalt und teilnahmslos zuschauend gegenüber stände. Auch <lb n="ple_147.037"/> Spielhagen macht die richtige Bemerkung, daß Licht und Schatten zwischen <lb n="ple_147.038"/> den kämpfenden Parteien der Ilias ungleich verteilt sind (a. a. O. S. 140). <lb n="ple_147.039"/> Ohne persönlich hervorzutreten zeigt Homer nicht selten durch die Wahl <lb n="ple_147.040"/> der Beiwörter, die Gruppierung der Tatsachen, die Wendung der Reden <lb n="ple_147.041"/> seiner Personen deutlich genug, auf welcher Seite sein Herz ist, und — <lb n="ple_147.042"/> für den echten Dichter charakteristisch — er fühlt zumeist mit dem Unterliegenden <lb n="ple_147.043"/> und ist daher von dem Wechsel der Handlung abhängig. Auch </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [147/0161]
ple_147.001
Dichtung entscheidend. Vielmehr macht es in letzterer Hinsicht offenbar ple_147.002
gar keinen Unterschied, ob der Dichter aus persönlichen Meinungen und ple_147.003
Empfindungen oder aus denen seines Volkes heraus seine Gegenstände ple_147.004
betrachtet und darstellt.
ple_147.005
Etwas anderes nun aber als diese vermeintliche Objektivität der ple_147.006
Anschauung ist die Unpersönlichkeit der Darstellungsweise. Es liegt im ple_147.007
Wesen der gegenständlichen Dichtung, daß der Dichter hinter seinen ple_147.008
Gegenstand verschwindet: das Hervortreten seiner Persönlichkeit mit ple_147.009
ihren Gedanken und Empfindungen unterbricht die Kontinuität der Darstellung ple_147.010
und wirkt wie ein Eingriff in die gegenständliche Welt, die er ple_147.011
gestalten und beleben will. Friedrich Schlegel hatte also recht, wenn er ple_147.012
jedes derartige Hervortreten als eine unangenehme Störung verurteilt, ple_147.013
und ebenso ist Friedrich Spielhagen im Recht, wenn er unter Berufung ple_147.014
auf ihn sich vor allem dagegen wendet, daß der Dichter statt der unmittelbaren ple_147.015
Anschauung von Menschen und Handlungen seine Reflexion ple_147.016
über dieselben darstellt, wenn er statt lebendiger Charaktere, die sich ple_147.017
vor unsern Augen entwickeln, Charakteristiken gibt. (Beiträge S. 68 f.) ple_147.018
Die Forderung der Unpersönlichkeit in diesem Sinne ist zweifellos berechtigt, ple_147.019
aber freilich im Epos nicht mehr und nicht weniger wie im ple_147.020
Drama; und wenn sie dem epischen Dichter gegenüber stärker hervorgehoben ple_147.021
wird als dem dramatischen, so ist das nur deshalb angebracht, ple_147.022
weil dieser leichter als jener dagegen verstößt. Denn die technische Möglichkeit, ple_147.023
persönlich hervorzutreten, ist dem Erzähler jeden Augenblick gegeben, ple_147.024
dem Dramatiker aber nur da, wo er allgemeine Gedanken ausspricht ple_147.025
oder allenfalls, wo er verstandesmäßig motiviert. Ja, man darf ple_147.026
sagen, daß dieser Fehler beim Dramatiker weit größer ist, weil er notwendigerweise ple_147.027
die Illusion völlig zerstört und aufhebt, während das beim ple_147.028
Epiker nicht ebenso unausbleiblich ist. Er kann sich unter Umständen, ple_147.029
wie z. B. zahlreiche Stellen des mittelhochdeutschen ritterlichen Epos beweisen, ple_147.030
gelegentlich ganz wohl als Betrachter oder Erzähler einführen, ple_147.031
wenn er nur nicht durch Moralisieren oder altkluges Erklären den Eindruck ple_147.032
stört oder nicht etwa gar Betrachtungen an die Stelle der Erzählung setzt.
ple_147.033
Im übrigen aber ist es doch auch hier eine Übertreibung, wenn man ple_147.034
behauptet, daß der epische Dichter seinem Gefühl und seinem Urteil keinerlei ple_147.035
Einfluß auf seine Darstellung verstatte, daß er seinen Helden und ihren ple_147.036
Erlebnissen kalt und teilnahmslos zuschauend gegenüber stände. Auch ple_147.037
Spielhagen macht die richtige Bemerkung, daß Licht und Schatten zwischen ple_147.038
den kämpfenden Parteien der Ilias ungleich verteilt sind (a. a. O. S. 140). ple_147.039
Ohne persönlich hervorzutreten zeigt Homer nicht selten durch die Wahl ple_147.040
der Beiwörter, die Gruppierung der Tatsachen, die Wendung der Reden ple_147.041
seiner Personen deutlich genug, auf welcher Seite sein Herz ist, und — ple_147.042
für den echten Dichter charakteristisch — er fühlt zumeist mit dem Unterliegenden ple_147.043
und ist daher von dem Wechsel der Handlung abhängig. Auch
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |