Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_148.001 ple_148.004 ple_148.021 ple_148.001 ple_148.004 ple_148.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0162" n="148"/><lb n="ple_148.001"/> das Mitgefühl des Nibelungendichters ist nach Siegfrieds Tod ebenso entschieden <lb n="ple_148.002"/> bei Kriemhilden, wie es beim Untergang der Nibelungen auf Seite <lb n="ple_148.003"/> der letzteren ist und sich gegen die „valentine“ richtet.</p> <p><lb n="ple_148.004"/> Ist somit die Forderung der Unparteilichkeit nicht absolut verbindlich <lb n="ple_148.005"/> und zudem mehr negativer Natur, so bleibt uns von jenen drei Gesetzen <lb n="ple_148.006"/> noch das der <hi rendition="#g">Objektivität</hi> im eigentlichen Sinne: dem der <hi rendition="#g">Gegenständlichkeit</hi> <lb n="ple_148.007"/> oder, wie es Humboldt bezeichnet, der „höchsten Sinnlichkeit der <lb n="ple_148.008"/> Anschauung“. Hiermit ist nun in der Tat das Prinzip ausgesprochen, das als <lb n="ple_148.009"/> das eigentlich entscheidende das Wesen der Epik bestimmt. Denn Gegenständlichkeit <lb n="ple_148.010"/> der Anschauung ist, wie uns der Eingang dieses Abschnittes belehrt <lb n="ple_148.011"/> hat, ja wie es schon aus dem Worte selbst hervorgeht, das wichtigste Merkmal <lb n="ple_148.012"/> der gegenständlichen Poesie überhaupt: Gestalten und Vorgänge müssen <lb n="ple_148.013"/> uns, eine eigene Welt bildend, plastisch ausgeprägt und belebt erscheinen <lb n="ple_148.014"/> und die Illusion selbständiger Wirklichkeit erwecken. Dieses Ziel nun kann <lb n="ple_148.015"/> der Dichter, wie sich bald zeigen wird, auf verschiedenen Wegen erreichen, <lb n="ple_148.016"/> und eben auf dieser Verschiedenheit beruht die besondere Eigenart epischer <lb n="ple_148.017"/> und dramatischer Kunst. Daher ist es für das Wesen der epischen Poesie <lb n="ple_148.018"/> offenbar die entscheidende Frage, durch welche Prinzipien dichterischer <lb n="ple_148.019"/> Technik der Dichter den Eindruck der Objektivität, d. h. die Illusion einer <lb n="ple_148.020"/> selbständig gestalteten und belebten Welt erreicht.</p> <p><lb n="ple_148.021"/> Für die Beantwortung dieser Frage ist Humboldt mit seiner allen <lb n="ple_148.022"/> technischen Gesichtspunkten allzu abgewandten ästhetischen Spekulation <lb n="ple_148.023"/> offenbar ein schlechter Führer, wiewohl seine Darstellung zahlreiche Lichtblicke <lb n="ple_148.024"/> und bedeutsame Ideen enthält. Eine weit bessere Anleitung zu <lb n="ple_148.025"/> einer Kunstlehre des Epos, wie wir sie suchen, finden wir an einer Humboldt <lb n="ple_148.026"/> nicht eben fern stehenden Stelle, wo man sie gleichfalls kaum vermuten <lb n="ple_148.027"/> würde: in dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Denn <lb n="ple_148.028"/> es ist die Eigenart dieses Briefwechsels, daß beide Dichter sich hier über <lb n="ple_148.029"/> die technischen Bedingungen und Mittel ihrer Kunst klar zu werden versuchen <lb n="ple_148.030"/> durch einen Gedankenaustausch, wie er eben nur zwischen <lb n="ple_148.031"/> schaffenden Geistern möglich ist. Die allgemeinen Prinzipien jener ethischästhetischen <lb n="ple_148.032"/> Weltanschauung, die namentlich Schiller in seinen für die <lb n="ple_148.033"/> Öffentlichkeit bestimmten Prosaschriften aller dichterischen Wertung zugrunde <lb n="ple_148.034"/> legt, treten hier zurück gegenüber den verhältnismäßig schlichten <lb n="ple_148.035"/> Fragen technischer Natur, und nicht über die sittliche Bestimmung des <lb n="ple_148.036"/> Epos und des Dramas, sondern von der technisch künstlerischen Eigenart <lb n="ple_148.037"/> beider Gattungen handelt der inhaltreiche kleine Aufsatz über epische und <lb n="ple_148.038"/> dramatische Dichtung, den Goethe am 23. Dezember 1797 an Schiller geschickt <lb n="ple_148.039"/> hat, und die ergänzenden Bemerkungen, die Schiller in seinem <lb n="ple_148.040"/> Antwortschreiben dazu macht. Ich gebe die Hauptsätze im folgenden <lb n="ple_148.041"/> wieder. „Der Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen Gesetzen <lb n="ple_148.042"/> unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der <lb n="ple_148.043"/> Entfaltung; ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände und können </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [148/0162]
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das Mitgefühl des Nibelungendichters ist nach Siegfrieds Tod ebenso entschieden ple_148.002
bei Kriemhilden, wie es beim Untergang der Nibelungen auf Seite ple_148.003
der letzteren ist und sich gegen die „valentine“ richtet.
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Ist somit die Forderung der Unparteilichkeit nicht absolut verbindlich ple_148.005
und zudem mehr negativer Natur, so bleibt uns von jenen drei Gesetzen ple_148.006
noch das der Objektivität im eigentlichen Sinne: dem der Gegenständlichkeit ple_148.007
oder, wie es Humboldt bezeichnet, der „höchsten Sinnlichkeit der ple_148.008
Anschauung“. Hiermit ist nun in der Tat das Prinzip ausgesprochen, das als ple_148.009
das eigentlich entscheidende das Wesen der Epik bestimmt. Denn Gegenständlichkeit ple_148.010
der Anschauung ist, wie uns der Eingang dieses Abschnittes belehrt ple_148.011
hat, ja wie es schon aus dem Worte selbst hervorgeht, das wichtigste Merkmal ple_148.012
der gegenständlichen Poesie überhaupt: Gestalten und Vorgänge müssen ple_148.013
uns, eine eigene Welt bildend, plastisch ausgeprägt und belebt erscheinen ple_148.014
und die Illusion selbständiger Wirklichkeit erwecken. Dieses Ziel nun kann ple_148.015
der Dichter, wie sich bald zeigen wird, auf verschiedenen Wegen erreichen, ple_148.016
und eben auf dieser Verschiedenheit beruht die besondere Eigenart epischer ple_148.017
und dramatischer Kunst. Daher ist es für das Wesen der epischen Poesie ple_148.018
offenbar die entscheidende Frage, durch welche Prinzipien dichterischer ple_148.019
Technik der Dichter den Eindruck der Objektivität, d. h. die Illusion einer ple_148.020
selbständig gestalteten und belebten Welt erreicht.
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Für die Beantwortung dieser Frage ist Humboldt mit seiner allen ple_148.022
technischen Gesichtspunkten allzu abgewandten ästhetischen Spekulation ple_148.023
offenbar ein schlechter Führer, wiewohl seine Darstellung zahlreiche Lichtblicke ple_148.024
und bedeutsame Ideen enthält. Eine weit bessere Anleitung zu ple_148.025
einer Kunstlehre des Epos, wie wir sie suchen, finden wir an einer Humboldt ple_148.026
nicht eben fern stehenden Stelle, wo man sie gleichfalls kaum vermuten ple_148.027
würde: in dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Denn ple_148.028
es ist die Eigenart dieses Briefwechsels, daß beide Dichter sich hier über ple_148.029
die technischen Bedingungen und Mittel ihrer Kunst klar zu werden versuchen ple_148.030
durch einen Gedankenaustausch, wie er eben nur zwischen ple_148.031
schaffenden Geistern möglich ist. Die allgemeinen Prinzipien jener ethischästhetischen ple_148.032
Weltanschauung, die namentlich Schiller in seinen für die ple_148.033
Öffentlichkeit bestimmten Prosaschriften aller dichterischen Wertung zugrunde ple_148.034
legt, treten hier zurück gegenüber den verhältnismäßig schlichten ple_148.035
Fragen technischer Natur, und nicht über die sittliche Bestimmung des ple_148.036
Epos und des Dramas, sondern von der technisch künstlerischen Eigenart ple_148.037
beider Gattungen handelt der inhaltreiche kleine Aufsatz über epische und ple_148.038
dramatische Dichtung, den Goethe am 23. Dezember 1797 an Schiller geschickt ple_148.039
hat, und die ergänzenden Bemerkungen, die Schiller in seinem ple_148.040
Antwortschreiben dazu macht. Ich gebe die Hauptsätze im folgenden ple_148.041
wieder. „Der Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen Gesetzen ple_148.042
unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der ple_148.043
Entfaltung; ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände und können
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