Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_152.001 ple_152.004 ple_152.021 ple_152.026 ple_152.001 ple_152.004 ple_152.021 ple_152.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0166" n="152"/><lb n="ple_152.001"/> Komplizierte Seelenzustände erscheinen nirgends, und auch die Örtlichkeit <lb n="ple_152.002"/> wie das Äußere der Personen ist durch einfache große Züge typisch gekennzeichnet.</p> <lb n="ple_152.003"/> <p><lb n="ple_152.004"/> Dabei aber ist die Methode der Darstellung selbst bei den hellenischen <lb n="ple_152.005"/> und deutschen Epikern durchaus verschieden. Wir wissen, wie Homer die <lb n="ple_152.006"/> wichtigeren Momente äußerer Anschauung an Personen und Gegenständen <lb n="ple_152.007"/> durch charakteristische Beiwörter hervorhebt, durch Vergleiche lebendig <lb n="ple_152.008"/> macht, wie oft er sich formelhafter Wendungen bedient, um wiederkehrende <lb n="ple_152.009"/> Situationen immer wieder aufs neue zu kennzeichnen. Alles das ist im <lb n="ple_152.010"/> Nibelungenlied sehr eingeschränkt. Die Beiwörter nehmen weit weniger <lb n="ple_152.011"/> Raum ein, die Vergleiche sind verhältnismäßig spärlich und kurz, die <lb n="ple_152.012"/> formelhaften Wendungen, an denen die ältere germanische Poesie so reich <lb n="ple_152.013"/> ist, sind gering an Zahl, wenn sie auch zum Teil oft wiederkehren. Die <lb n="ple_152.014"/> indirekte Schilderung des Schauplatzes — direkte kommt hier ebensowenig <lb n="ple_152.015"/> vor wie beim Homer — ist auf die allernotwendigsten Züge beschränkt. <lb n="ple_152.016"/> Wie wenig erfahren wir z. B. über die Etzelburg und den Saal, in welchem <lb n="ple_152.017"/> Burgunden und Hunnen den Todeskampf kämpfen. Immerhin genug freilich, <lb n="ple_152.018"/> um dem, der einmal eine größere Burg gesehen hat — und auf solche <lb n="ple_152.019"/> Hörer durfte der Dichter rechnen —, den Kampf mit seinen Einzelheiten <lb n="ple_152.020"/> völlig anschaulich zu machen.</p> <p><lb n="ple_152.021"/> Plastische Greifbarkeit der äußeren Gestalten und Ereignisse, lebendige <lb n="ple_152.022"/> Anschaulichkeit der seelischen Zustände und Vorgänge, lichtvolle Deutlichkeit <lb n="ple_152.023"/> der umgebenden Welt: das sind die Mittel, auf denen alle epische <lb n="ple_152.024"/> Wirkung beruht, denn sie sind es, durch welche die Erzählung des epischen <lb n="ple_152.025"/> Dichters gegenständliches Leben erhält.</p> <p><lb n="ple_152.026"/> Jede dieser drei Wesenseigenschaften des Epos ist nun einer besonderen <lb n="ple_152.027"/> Entwicklung und Steigerung fähig; und in der Tat zeigt uns die <lb n="ple_152.028"/> Literaturgeschichte zumeist eine solche gesonderte Fortentwicklung. Zunächst <lb n="ple_152.029"/> können wir noch im Altertum und nicht minder in den Zeiten der <lb n="ple_152.030"/> ritterlichen Literatur deutlich den Unterschied zwischen solchen epischen <lb n="ple_152.031"/> Dichtungen wahrnehmen, die ihre Wirkung in der Häufung und Ausmalung <lb n="ple_152.032"/> äußerer Ereignisse, Abenteuer und Wunder suchen, und solcher, die darnach <lb n="ple_152.033"/> streben, die Psychologie der Vorgänge zu vertiefen und zu verfeinern. <lb n="ple_152.034"/> Die erstere Richtung führt bald zu dem, was wir nicht ohne Geringschätzung <lb n="ple_152.035"/> <hi rendition="#g">Unterhaltungslektüre</hi> zu nennen pflegen, wie denn die Romane <lb n="ple_152.036"/> und Novellen des späteren Altertums fast ganz zu dieser zu rechnen sind. <lb n="ple_152.037"/> Im höfischen Mittelalter wird der Unterschied zwischen dem Streben nach <lb n="ple_152.038"/> Vertiefung des Inneren und nach äußerer Buntheit und Mannigfaltigkeit <lb n="ple_152.039"/> durch den Gegensatz anschaulich, in dem die Entwicklung der deutschen <lb n="ple_152.040"/> Epik, von Heinrich und Hartmann zu Gottfried und Wolfram, gegenüber <lb n="ple_152.041"/> der Trouverspoesie steht, von der diese Dichter ausgegangen sind. Zwar <lb n="ple_152.042"/> ist auch in den Dichtern des deutschen Tristan und Parzival der echt <lb n="ple_152.043"/> epische Instinkt lebendig, der sie treibt, in der Veranschaulichung der Taten </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [152/0166]
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Komplizierte Seelenzustände erscheinen nirgends, und auch die Örtlichkeit ple_152.002
wie das Äußere der Personen ist durch einfache große Züge typisch gekennzeichnet.
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Dabei aber ist die Methode der Darstellung selbst bei den hellenischen ple_152.005
und deutschen Epikern durchaus verschieden. Wir wissen, wie Homer die ple_152.006
wichtigeren Momente äußerer Anschauung an Personen und Gegenständen ple_152.007
durch charakteristische Beiwörter hervorhebt, durch Vergleiche lebendig ple_152.008
macht, wie oft er sich formelhafter Wendungen bedient, um wiederkehrende ple_152.009
Situationen immer wieder aufs neue zu kennzeichnen. Alles das ist im ple_152.010
Nibelungenlied sehr eingeschränkt. Die Beiwörter nehmen weit weniger ple_152.011
Raum ein, die Vergleiche sind verhältnismäßig spärlich und kurz, die ple_152.012
formelhaften Wendungen, an denen die ältere germanische Poesie so reich ple_152.013
ist, sind gering an Zahl, wenn sie auch zum Teil oft wiederkehren. Die ple_152.014
indirekte Schilderung des Schauplatzes — direkte kommt hier ebensowenig ple_152.015
vor wie beim Homer — ist auf die allernotwendigsten Züge beschränkt. ple_152.016
Wie wenig erfahren wir z. B. über die Etzelburg und den Saal, in welchem ple_152.017
Burgunden und Hunnen den Todeskampf kämpfen. Immerhin genug freilich, ple_152.018
um dem, der einmal eine größere Burg gesehen hat — und auf solche ple_152.019
Hörer durfte der Dichter rechnen —, den Kampf mit seinen Einzelheiten ple_152.020
völlig anschaulich zu machen.
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Plastische Greifbarkeit der äußeren Gestalten und Ereignisse, lebendige ple_152.022
Anschaulichkeit der seelischen Zustände und Vorgänge, lichtvolle Deutlichkeit ple_152.023
der umgebenden Welt: das sind die Mittel, auf denen alle epische ple_152.024
Wirkung beruht, denn sie sind es, durch welche die Erzählung des epischen ple_152.025
Dichters gegenständliches Leben erhält.
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Jede dieser drei Wesenseigenschaften des Epos ist nun einer besonderen ple_152.027
Entwicklung und Steigerung fähig; und in der Tat zeigt uns die ple_152.028
Literaturgeschichte zumeist eine solche gesonderte Fortentwicklung. Zunächst ple_152.029
können wir noch im Altertum und nicht minder in den Zeiten der ple_152.030
ritterlichen Literatur deutlich den Unterschied zwischen solchen epischen ple_152.031
Dichtungen wahrnehmen, die ihre Wirkung in der Häufung und Ausmalung ple_152.032
äußerer Ereignisse, Abenteuer und Wunder suchen, und solcher, die darnach ple_152.033
streben, die Psychologie der Vorgänge zu vertiefen und zu verfeinern. ple_152.034
Die erstere Richtung führt bald zu dem, was wir nicht ohne Geringschätzung ple_152.035
Unterhaltungslektüre zu nennen pflegen, wie denn die Romane ple_152.036
und Novellen des späteren Altertums fast ganz zu dieser zu rechnen sind. ple_152.037
Im höfischen Mittelalter wird der Unterschied zwischen dem Streben nach ple_152.038
Vertiefung des Inneren und nach äußerer Buntheit und Mannigfaltigkeit ple_152.039
durch den Gegensatz anschaulich, in dem die Entwicklung der deutschen ple_152.040
Epik, von Heinrich und Hartmann zu Gottfried und Wolfram, gegenüber ple_152.041
der Trouverspoesie steht, von der diese Dichter ausgegangen sind. Zwar ple_152.042
ist auch in den Dichtern des deutschen Tristan und Parzival der echt ple_152.043
epische Instinkt lebendig, der sie treibt, in der Veranschaulichung der Taten
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