Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_153.001 ple_153.004 ple_153.014 1) ple_153.042
Edda, übersetzt von Gehring S. 113. ple_153.001 ple_153.004 ple_153.014 1) ple_153.042
Edda, übersetzt von Gehring S. 113. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0167" n="153"/><lb n="ple_153.001"/> und Ereignisse gleichen Schritt zu halten mit der innerlichen Vertiefung. <lb n="ple_153.002"/> Allein deutlich wird doch auch, daß dies letztere Interesse das eigentlich <lb n="ple_153.003"/> herrschende ist.</p> <p><lb n="ple_153.004"/> Zur entschiedensten Versenkung in das Seelenleben ist erst der moderne <lb n="ple_153.005"/> Roman gelangt, und in dem letzten Menschenalter hat das Interesse <lb n="ple_153.006"/> für psychische Vorgänge und Entwicklungen nicht selten mit einseitiger <lb n="ple_153.007"/> Stärke die Freude an der sinnlich anschaulichen Gestaltung der <lb n="ple_153.008"/> äußeren Erscheinungen zurückgedrängt. Andrerseits freilich hat gerade im <lb n="ple_153.009"/> Zusammenhang mit diesem psychologischen Interesse die Schilderung des <lb n="ple_153.010"/> Milieu gleichfalls erst in neuerer Zeit eine durchgreifende, zum Teil ganz <lb n="ple_153.011"/> selbständige Bedeutung gewonnen. Bevor wir aber auf diese Entwicklung <lb n="ple_153.012"/> der epischen Poesie eingehen, müssen wir noch einen Augenblick bei <lb n="ple_153.013"/> ihren älteren Formen verweilen.</p> <p><lb n="ple_153.014"/> Die Epopöe nämlich ist bekanntlich keineswegs die Urform der <lb n="ple_153.015"/> epischen Poesie; sie ist vielmehr, wie wir wissen, überall aus Reihen von <lb n="ple_153.016"/> kleineren epischen Liedern entstanden. Wir kennen den Charakter solcher <lb n="ple_153.017"/> Lieder besonders aus der nordischen und deutschen Überlieferung. Die <lb n="ple_153.018"/> meisten von ihnen tragen einen halb lyrischen oder dramatischen Charakter, <lb n="ple_153.019"/> und wir würden sie in moderner Ausdrucksweise als Balladen bezeichnen; <lb n="ple_153.020"/> ein Teil jedoch weist deutlich die Charakterzüge rein epischer <lb n="ple_153.021"/> Darstellung auf, wie besonders das Hildebrandlied und unter den Eddaliedern <lb n="ple_153.022"/> z. B. das Lied von Rig.<note xml:id="ple_153_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_153.042"/> Edda, übersetzt von Gehring S. 113.</note> Der Unterschied zwischen beiden Formen <lb n="ple_153.023"/> wird erst im 15. Abschnitt deutlich werden, wenn wir das Wesen der <lb n="ple_153.024"/> Ballade zu erörtern Gelegenheit haben. Hier kommt es nur darauf an, <lb n="ple_153.025"/> hervorzuheben, daß die kleinere, mehr oder weniger in sich geschlossene <lb n="ple_153.026"/> <hi rendition="#g">poetische Erzählung</hi> eine ursprüngliche Erscheinung der epischen <lb n="ple_153.027"/> Poesie ist, daher sie denn auch in den verschiedensten Epochen der Literatur <lb n="ple_153.028"/> neben dem großen Epos hervortritt. Die nordfranzösische und provençalische <lb n="ple_153.029"/> Poesie des 12. Jahrhunderts hat ihr besondere Pflege gewidmet, <lb n="ple_153.030"/> und die ausgehende höfische Epik, zumal Konrad von Würzburg, <lb n="ple_153.031"/> bevorzugt sie beinahe. In der modernen deutschen Literatur ist die poetische <lb n="ple_153.032"/> Erzählung von der Mitte des 18. Jahrhunderts an aufs lebhafteste <lb n="ple_153.033"/> gepflegt worden. Zunächst — bei Hagedorn und Gellert — dem Geist der <lb n="ple_153.034"/> Zeit entsprechend mit einer platt moralisierenden Tendenz, Vorgängen des <lb n="ple_153.035"/> täglichen Lebens entnommen, durch Herder auf den religiösen Boden verpflanzt, <lb n="ple_153.036"/> durch Bürger mit mächtigem, echt volkstümlichem Leben erfüllt, <lb n="ple_153.037"/> wurde sie durch Schiller und zum Teil auch durch Goethe ganz in den <lb n="ple_153.038"/> hohen epischen Stil erhoben und unter den unzutreffenden Bezeichnungen <lb n="ple_153.039"/> <hi rendition="#g">Romanze</hi> und <hi rendition="#g">Ballade</hi> zur Trägerin bedeutsamer moralischer oder geschichtlicher <lb n="ple_153.040"/> Ideen gestaltet. In dieser Form ist sie das ganze 19. Jahrhundert <lb n="ple_153.041"/> hindurch von nahezu allen deutschen Dichtern gepflegt worden, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [153/0167]
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und Ereignisse gleichen Schritt zu halten mit der innerlichen Vertiefung. ple_153.002
Allein deutlich wird doch auch, daß dies letztere Interesse das eigentlich ple_153.003
herrschende ist.
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Zur entschiedensten Versenkung in das Seelenleben ist erst der moderne ple_153.005
Roman gelangt, und in dem letzten Menschenalter hat das Interesse ple_153.006
für psychische Vorgänge und Entwicklungen nicht selten mit einseitiger ple_153.007
Stärke die Freude an der sinnlich anschaulichen Gestaltung der ple_153.008
äußeren Erscheinungen zurückgedrängt. Andrerseits freilich hat gerade im ple_153.009
Zusammenhang mit diesem psychologischen Interesse die Schilderung des ple_153.010
Milieu gleichfalls erst in neuerer Zeit eine durchgreifende, zum Teil ganz ple_153.011
selbständige Bedeutung gewonnen. Bevor wir aber auf diese Entwicklung ple_153.012
der epischen Poesie eingehen, müssen wir noch einen Augenblick bei ple_153.013
ihren älteren Formen verweilen.
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Die Epopöe nämlich ist bekanntlich keineswegs die Urform der ple_153.015
epischen Poesie; sie ist vielmehr, wie wir wissen, überall aus Reihen von ple_153.016
kleineren epischen Liedern entstanden. Wir kennen den Charakter solcher ple_153.017
Lieder besonders aus der nordischen und deutschen Überlieferung. Die ple_153.018
meisten von ihnen tragen einen halb lyrischen oder dramatischen Charakter, ple_153.019
und wir würden sie in moderner Ausdrucksweise als Balladen bezeichnen; ple_153.020
ein Teil jedoch weist deutlich die Charakterzüge rein epischer ple_153.021
Darstellung auf, wie besonders das Hildebrandlied und unter den Eddaliedern ple_153.022
z. B. das Lied von Rig. 1) Der Unterschied zwischen beiden Formen ple_153.023
wird erst im 15. Abschnitt deutlich werden, wenn wir das Wesen der ple_153.024
Ballade zu erörtern Gelegenheit haben. Hier kommt es nur darauf an, ple_153.025
hervorzuheben, daß die kleinere, mehr oder weniger in sich geschlossene ple_153.026
poetische Erzählung eine ursprüngliche Erscheinung der epischen ple_153.027
Poesie ist, daher sie denn auch in den verschiedensten Epochen der Literatur ple_153.028
neben dem großen Epos hervortritt. Die nordfranzösische und provençalische ple_153.029
Poesie des 12. Jahrhunderts hat ihr besondere Pflege gewidmet, ple_153.030
und die ausgehende höfische Epik, zumal Konrad von Würzburg, ple_153.031
bevorzugt sie beinahe. In der modernen deutschen Literatur ist die poetische ple_153.032
Erzählung von der Mitte des 18. Jahrhunderts an aufs lebhafteste ple_153.033
gepflegt worden. Zunächst — bei Hagedorn und Gellert — dem Geist der ple_153.034
Zeit entsprechend mit einer platt moralisierenden Tendenz, Vorgängen des ple_153.035
täglichen Lebens entnommen, durch Herder auf den religiösen Boden verpflanzt, ple_153.036
durch Bürger mit mächtigem, echt volkstümlichem Leben erfüllt, ple_153.037
wurde sie durch Schiller und zum Teil auch durch Goethe ganz in den ple_153.038
hohen epischen Stil erhoben und unter den unzutreffenden Bezeichnungen ple_153.039
Romanze und Ballade zur Trägerin bedeutsamer moralischer oder geschichtlicher ple_153.040
Ideen gestaltet. In dieser Form ist sie das ganze 19. Jahrhundert ple_153.041
hindurch von nahezu allen deutschen Dichtern gepflegt worden,
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