Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_155.001 ple_155.014 ple_155.030 ple_155.042 ple_155.001 ple_155.014 ple_155.030 ple_155.042 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0169" n="155"/><lb n="ple_155.001"/> wurde. In der Tat bezeichnen die Volksbücher des folgenden Jahrhunderts <lb n="ple_155.002"/> gegenüber den ritterlichen Epen nicht minder einen Rückgang wie die <lb n="ple_155.003"/> Abenteurer- und Schelmenromane des 17. Jahrhunderts. Dennoch zeigt <lb n="ple_155.004"/> sich vereinzelt schon in diesem letzteren, daß mit der prosaischen Form <lb n="ple_155.005"/> auch ein künstlerischer Vorteil gegenüber der gereimten Dichtung verbunden <lb n="ple_155.006"/> ist: die leichtere Beweglichkeit, die dem Dichter ermöglicht, schneller <lb n="ple_155.007"/> und vollständiger alle Einzelheiten des äußeren, alle Nüancen des inneren <lb n="ple_155.008"/> Geschehens zum Ausdruck zu bringen und vor allem den Dialog weit charakteristischer <lb n="ple_155.009"/> zu gestalten, als das in gebundener Rede möglich war. Den <lb n="ple_155.010"/> Simplicissimus könnte man sich nicht in Versen vorstellen, ohne daß er <lb n="ple_155.011"/> auch künstlerisch verlieren würde. Es zeigt sich bereits hier, daß die <lb n="ple_155.012"/> Kraft zu realistischer Wiedergabe der Welt und der Menschen die starke <lb n="ple_155.013"/> Seite des modernen Romans bilden wird.</p> <p><lb n="ple_155.014"/> Freilich solange der Roman wesentlich stoffliches Interesse darbot, <lb n="ple_155.015"/> solange er nichts anderes als Unterhaltungslektüre sein wollte, kamen die <lb n="ple_155.016"/> künstlerischen Vorzüge der Prosaform naturgemäß nicht zu ihrem Recht. <lb n="ple_155.017"/> Auch der moralisierende Familienroman des 18. Jahrhunderts ist noch weit <lb n="ple_155.018"/> davon entfernt, eine neue Kunstform darzustellen. Eine solche entsteht <lb n="ple_155.019"/> erst durch die psychologische Wendung, welche die Romandichtung mit <lb n="ple_155.020"/> der neuen Heloise und dem Werther genommen hat. Hier erscheint der <lb n="ple_155.021"/> Roman zum erstenmal als ein Seelengemälde. Das innere Geschehen ist <lb n="ple_155.022"/> durchaus das Wesentliche, wiewohl, wenigstens im Werther wie im echten <lb n="ple_155.023"/> Epos, die äußere Anschaulichkeit durchweg der inneren parallel läuft, die <lb n="ple_155.024"/> Natur in ihrem Wechsel, die Menschen in ihrem Tun und Treiben stets <lb n="ple_155.025"/> sinnfällig zur Anschauung kommen. Aber zugleich wird es klar, daß der <lb n="ple_155.026"/> epische Charakter in solchen Dichtwerken, soweit es überhaupt möglich <lb n="ple_155.027"/> war, nur durch die Prosaform gewahrt werden konnte. Eine Umsetzung <lb n="ple_155.028"/> des Werther in Verse würde seiner Auflösung in eine Reihe lyrischer Gedichte <lb n="ple_155.029"/> gleichkommen.</p> <p><lb n="ple_155.030"/> Die Richtung auf das Charakteristische und insbesondere das Psychologische <lb n="ple_155.031"/> ist dem Roman als Kunstgattung von da an geblieben: Bücher, <lb n="ple_155.032"/> die an dieser Richtung keinen Teil haben, zählen nicht mehr zur Literatur <lb n="ple_155.033"/> und gelten eben nur als Unterhaltungslektüre. Und Goethes zweiter Roman, <lb n="ple_155.034"/> der Wilhelm Meister, weist der neuen Richtung ein noch festeres Ziel und <lb n="ple_155.035"/> entschiedenere Bahnen. <hi rendition="#g">Der Roman wird zur Geschichte eines <lb n="ple_155.036"/> werdenden Charakters,</hi> und dieses Werden ist es, was das Interesse <lb n="ple_155.037"/> des Erzählers wie des Lesers hauptsächlich beschäftigt und die einzelnen <lb n="ple_155.038"/> Teile der Handlung als Phasen der Entwicklung organisch zusammenhält. <lb n="ple_155.039"/> Von Wilhelm Meister an nähert sich jeder moderne Roman mehr oder <lb n="ple_155.040"/> weniger entschieden der Form der Lebens- oder genauer der Jugendgeschichte.</p> <lb n="ple_155.041"/> <p><lb n="ple_155.042"/> Diesen biographischen Charakter trugen schon die besten unter den <lb n="ple_155.043"/> höfischen Epen, Tristan und besonders Parzival; nicht minder der Simplicissimus, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [155/0169]
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wurde. In der Tat bezeichnen die Volksbücher des folgenden Jahrhunderts ple_155.002
gegenüber den ritterlichen Epen nicht minder einen Rückgang wie die ple_155.003
Abenteurer- und Schelmenromane des 17. Jahrhunderts. Dennoch zeigt ple_155.004
sich vereinzelt schon in diesem letzteren, daß mit der prosaischen Form ple_155.005
auch ein künstlerischer Vorteil gegenüber der gereimten Dichtung verbunden ple_155.006
ist: die leichtere Beweglichkeit, die dem Dichter ermöglicht, schneller ple_155.007
und vollständiger alle Einzelheiten des äußeren, alle Nüancen des inneren ple_155.008
Geschehens zum Ausdruck zu bringen und vor allem den Dialog weit charakteristischer ple_155.009
zu gestalten, als das in gebundener Rede möglich war. Den ple_155.010
Simplicissimus könnte man sich nicht in Versen vorstellen, ohne daß er ple_155.011
auch künstlerisch verlieren würde. Es zeigt sich bereits hier, daß die ple_155.012
Kraft zu realistischer Wiedergabe der Welt und der Menschen die starke ple_155.013
Seite des modernen Romans bilden wird.
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Freilich solange der Roman wesentlich stoffliches Interesse darbot, ple_155.015
solange er nichts anderes als Unterhaltungslektüre sein wollte, kamen die ple_155.016
künstlerischen Vorzüge der Prosaform naturgemäß nicht zu ihrem Recht. ple_155.017
Auch der moralisierende Familienroman des 18. Jahrhunderts ist noch weit ple_155.018
davon entfernt, eine neue Kunstform darzustellen. Eine solche entsteht ple_155.019
erst durch die psychologische Wendung, welche die Romandichtung mit ple_155.020
der neuen Heloise und dem Werther genommen hat. Hier erscheint der ple_155.021
Roman zum erstenmal als ein Seelengemälde. Das innere Geschehen ist ple_155.022
durchaus das Wesentliche, wiewohl, wenigstens im Werther wie im echten ple_155.023
Epos, die äußere Anschaulichkeit durchweg der inneren parallel läuft, die ple_155.024
Natur in ihrem Wechsel, die Menschen in ihrem Tun und Treiben stets ple_155.025
sinnfällig zur Anschauung kommen. Aber zugleich wird es klar, daß der ple_155.026
epische Charakter in solchen Dichtwerken, soweit es überhaupt möglich ple_155.027
war, nur durch die Prosaform gewahrt werden konnte. Eine Umsetzung ple_155.028
des Werther in Verse würde seiner Auflösung in eine Reihe lyrischer Gedichte ple_155.029
gleichkommen.
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Die Richtung auf das Charakteristische und insbesondere das Psychologische ple_155.031
ist dem Roman als Kunstgattung von da an geblieben: Bücher, ple_155.032
die an dieser Richtung keinen Teil haben, zählen nicht mehr zur Literatur ple_155.033
und gelten eben nur als Unterhaltungslektüre. Und Goethes zweiter Roman, ple_155.034
der Wilhelm Meister, weist der neuen Richtung ein noch festeres Ziel und ple_155.035
entschiedenere Bahnen. Der Roman wird zur Geschichte eines ple_155.036
werdenden Charakters, und dieses Werden ist es, was das Interesse ple_155.037
des Erzählers wie des Lesers hauptsächlich beschäftigt und die einzelnen ple_155.038
Teile der Handlung als Phasen der Entwicklung organisch zusammenhält. ple_155.039
Von Wilhelm Meister an nähert sich jeder moderne Roman mehr oder ple_155.040
weniger entschieden der Form der Lebens- oder genauer der Jugendgeschichte.
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höfischen Epen, Tristan und besonders Parzival; nicht minder der Simplicissimus,
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