Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_156.001 ple_156.028 ple_156.001 ple_156.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0170" n="156"/><lb n="ple_156.001"/> und in das gleiche Bett wird nun der Strom der modernen <lb n="ple_156.002"/> Romandichtung gelenkt. Die Künstlerromane der Romantiker folgen dem <lb n="ple_156.003"/> Wilhelm Meister. Sie haben ihren letzten bedeutsamsten Ausläufer in Gottfried <lb n="ple_156.004"/> Kellers Grünem Heinrich. Auf anderen Lebensgebieten führen Jean <lb n="ple_156.005"/> Pauls große Romane das Thema der Bildungsgeschichte durch; tiefer noch <lb n="ple_156.006"/> und künstlerischer als diese, die eine Zeitlang die deutsche Lesewelt beherrschten, <lb n="ple_156.007"/> Hölderlins erst spät voll gewürdigter Hyperion. Und auch aus <lb n="ple_156.008"/> den letzten Jahrzehnten ist es nicht schwer, eine Anzahl so bedeutsamer <lb n="ple_156.009"/> wie erfolgreicher biographischer Romane der deutschen und besonders <lb n="ple_156.010"/> auch der skandinavischen Literatur zu nennen. So Raabes ausgeglichenstes <lb n="ple_156.011"/> Werk, <hi rendition="#g">der Hungerpastor,</hi> Jacobsens tiefes und feines Buch <hi rendition="#g">Niels Lyhne,</hi> <lb n="ple_156.012"/> so in allerjüngster Zeit Frenssens Jörn Uhl und Hilligenlei. — Die Biographie <lb n="ple_156.013"/> ist begreiflicherweise in vielen Fällen Autobiographie. Der Dichter schildert <lb n="ple_156.014"/> seine eigene Entwicklung, seine eigenen Erlebnisse, oder er leiht doch <lb n="ple_156.015"/> seinem Helden so viel von der eigenen Persönlichkeit, daß der Roman <lb n="ple_156.016"/> dem Inhalt nach einen stark subjektiven Charakter erhält. Hiermit hängt <lb n="ple_156.017"/> zusammen, daß die Darstellung sich gern und häufig der ersten Person <lb n="ple_156.018"/> bedient, auch da, wo die unepische Form des Briefromans, die noch der <lb n="ple_156.019"/> Werther trägt, der Erzählung Platz gemacht hat. Auch diese Eigentümlichkeit <lb n="ple_156.020"/> gehört nicht erst der letzten Entwicklungsphase des Romans an, schon <lb n="ple_156.021"/> der Simplicissimus weist sie auf, aber erst dem modernen Problem der <lb n="ple_156.022"/> Bildungsgeschichte entspricht sie völlig. So ist der Roman in der Tat <lb n="ple_156.023"/> zu einer „subjektiven Epopöe“ geworden, wie Goethes Ausdruck lautet. <lb n="ple_156.024"/> Und Spielhagen konnte mit verzeihlicher, wenn auch nicht berechtigter <lb n="ple_156.025"/> Einseitigkeit den „Ich-Roman“, als den Ausdruck der persönlichen Lebenserfahrungen <lb n="ple_156.026"/> des Dichters, für die einzige vollgültige Form der modernen <lb n="ple_156.027"/> Romandichtung erklären.</p> <p><lb n="ple_156.028"/> In der Tat ist die Entwicklungsgeschichte eines werdenden Charakters <lb n="ple_156.029"/> diejenige Form, in welcher die Vorzüge epischer Darstellung am vollständigsten <lb n="ple_156.030"/> und bedeutsamsten zur Geltung kommen. Zunächst ist das Motiv <lb n="ple_156.031"/> an sich schon von unerschöpflichem Interesse. So mannigfaltig und zahlreich <lb n="ple_156.032"/> die verschiedenen Individualitäten, die ein hoher Entwicklungsstand <lb n="ple_156.033"/> der Kultur in den verschiedenen sozialen Kreisen hervorbringt, so mannigfaltig <lb n="ple_156.034"/> und zahlreich sind auch die Wege, auf denen sie sich entwickeln. <lb n="ple_156.035"/> Und wiewohl die Lebensformen der modernen Gesellschaft diesen Bildungswegen <lb n="ple_156.036"/> äußerlich eine gewisse Gleichmäßigkeit aufprägen, so sind <lb n="ple_156.037"/> es doch immer wieder neue Wendungen, die der Weg des Einzelnen <lb n="ple_156.038"/> nimmt, immer neue Höhen und Tiefen, die sich darbieten; psychologische <lb n="ple_156.039"/> und moralische Probleme treten uns in immer erneuter Gestalt entgegen. <lb n="ple_156.040"/> Wie uns der Anblick eines Kindes, eines Jünglings, eines Mädchens in <lb n="ple_156.041"/> der Frische und Fülle der Jugend ein ästhetisches Wohlgefallen abgewinnt, <lb n="ple_156.042"/> ein Wohlgefallen, das sich leicht mit einer stillen Frage nach der Zukunft <lb n="ple_156.043"/> verbindet, so ruft auch die Entwicklungsgeschichte eines jungen Menschenkindes </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [156/0170]
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und in das gleiche Bett wird nun der Strom der modernen ple_156.002
Romandichtung gelenkt. Die Künstlerromane der Romantiker folgen dem ple_156.003
Wilhelm Meister. Sie haben ihren letzten bedeutsamsten Ausläufer in Gottfried ple_156.004
Kellers Grünem Heinrich. Auf anderen Lebensgebieten führen Jean ple_156.005
Pauls große Romane das Thema der Bildungsgeschichte durch; tiefer noch ple_156.006
und künstlerischer als diese, die eine Zeitlang die deutsche Lesewelt beherrschten, ple_156.007
Hölderlins erst spät voll gewürdigter Hyperion. Und auch aus ple_156.008
den letzten Jahrzehnten ist es nicht schwer, eine Anzahl so bedeutsamer ple_156.009
wie erfolgreicher biographischer Romane der deutschen und besonders ple_156.010
auch der skandinavischen Literatur zu nennen. So Raabes ausgeglichenstes ple_156.011
Werk, der Hungerpastor, Jacobsens tiefes und feines Buch Niels Lyhne, ple_156.012
so in allerjüngster Zeit Frenssens Jörn Uhl und Hilligenlei. — Die Biographie ple_156.013
ist begreiflicherweise in vielen Fällen Autobiographie. Der Dichter schildert ple_156.014
seine eigene Entwicklung, seine eigenen Erlebnisse, oder er leiht doch ple_156.015
seinem Helden so viel von der eigenen Persönlichkeit, daß der Roman ple_156.016
dem Inhalt nach einen stark subjektiven Charakter erhält. Hiermit hängt ple_156.017
zusammen, daß die Darstellung sich gern und häufig der ersten Person ple_156.018
bedient, auch da, wo die unepische Form des Briefromans, die noch der ple_156.019
Werther trägt, der Erzählung Platz gemacht hat. Auch diese Eigentümlichkeit ple_156.020
gehört nicht erst der letzten Entwicklungsphase des Romans an, schon ple_156.021
der Simplicissimus weist sie auf, aber erst dem modernen Problem der ple_156.022
Bildungsgeschichte entspricht sie völlig. So ist der Roman in der Tat ple_156.023
zu einer „subjektiven Epopöe“ geworden, wie Goethes Ausdruck lautet. ple_156.024
Und Spielhagen konnte mit verzeihlicher, wenn auch nicht berechtigter ple_156.025
Einseitigkeit den „Ich-Roman“, als den Ausdruck der persönlichen Lebenserfahrungen ple_156.026
des Dichters, für die einzige vollgültige Form der modernen ple_156.027
Romandichtung erklären.
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In der Tat ist die Entwicklungsgeschichte eines werdenden Charakters ple_156.029
diejenige Form, in welcher die Vorzüge epischer Darstellung am vollständigsten ple_156.030
und bedeutsamsten zur Geltung kommen. Zunächst ist das Motiv ple_156.031
an sich schon von unerschöpflichem Interesse. So mannigfaltig und zahlreich ple_156.032
die verschiedenen Individualitäten, die ein hoher Entwicklungsstand ple_156.033
der Kultur in den verschiedenen sozialen Kreisen hervorbringt, so mannigfaltig ple_156.034
und zahlreich sind auch die Wege, auf denen sie sich entwickeln. ple_156.035
Und wiewohl die Lebensformen der modernen Gesellschaft diesen Bildungswegen ple_156.036
äußerlich eine gewisse Gleichmäßigkeit aufprägen, so sind ple_156.037
es doch immer wieder neue Wendungen, die der Weg des Einzelnen ple_156.038
nimmt, immer neue Höhen und Tiefen, die sich darbieten; psychologische ple_156.039
und moralische Probleme treten uns in immer erneuter Gestalt entgegen. ple_156.040
Wie uns der Anblick eines Kindes, eines Jünglings, eines Mädchens in ple_156.041
der Frische und Fülle der Jugend ein ästhetisches Wohlgefallen abgewinnt, ple_156.042
ein Wohlgefallen, das sich leicht mit einer stillen Frage nach der Zukunft ple_156.043
verbindet, so ruft auch die Entwicklungsgeschichte eines jungen Menschenkindes
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