Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_188.001 ple_188.005 16. Die Stoffgebiete der gegenständlichen Dichtung. Der Lyrik ple_188.006 ple_188.021 ple_188.001 ple_188.005 16. Die Stoffgebiete der gegenständlichen Dichtung. Der Lyrik ple_188.006 ple_188.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0202" n="188"/><lb n="ple_188.001"/> Aesopischen Fabel: von Lessings Fabeln z. B. darf man sagen, daß <lb n="ple_188.002"/> sie gewissermaßen epische Epigramme sind. Freilich nähern sie sich eben <lb n="ple_188.003"/> hierdurch, wie das Epigramm selber, dem rein Verstandesmäßigen und <lb n="ple_188.004"/> damit den Grenzen der Poesie.</p> </div> <div n="3"> <head> <lb n="ple_188.005"/> <hi rendition="#b">16. Die Stoffgebiete der gegenständlichen Dichtung.</hi> </head> <p> Der Lyrik <lb n="ple_188.006"/> ist ihr Gebiet ein für allemal gegeben: es ist das Innenleben des Dichters, <lb n="ple_188.007"/> sein Fühlen und Denken. Und daß die äußeren Vorgänge, aus denen <lb n="ple_188.008"/> die inneren Erlebnisse des Lyrikers und somit indirekt seine Schöpfungen <lb n="ple_188.009"/> hervorgehen, für das Verständnis dieser Schöpfungen nicht wesentlich <lb n="ple_188.010"/> sind, ist bereits S. 120 f. gezeigt worden. Anders verhält es sich mit <lb n="ple_188.011"/> den gegenständlichen Gattungen der Poesie. Zwar kommt auch hier, <lb n="ple_188.012"/> wie wir (S. 47, 48) gesehen haben, einer systematischen Inventarisierung <lb n="ple_188.013"/> der Stoffe und Motive keine wissenschaftliche Bedeutung zu, und selbst <lb n="ple_188.014"/> die geschichtliche Behandlung der einzelnen Motive hat nur einen untergeordneten <lb n="ple_188.015"/> Wert für die Einsicht in das Wesen dichterischer Gestaltung. <lb n="ple_188.016"/> Betrachtet man aber die Stoff<hi rendition="#g">gebiete</hi> im großen, die dem Epiker und <lb n="ple_188.017"/> Dramatiker zu Gebote stehen und auf denen alle gegenständliche Dichtung <lb n="ple_188.018"/> erwächst, so lassen sich für das Verhältnis der Poesie zu bestimmten <lb n="ple_188.019"/> allgemeinen Seiten des geistigen Lebens doch mancherlei belehrende Aufschlüsse <lb n="ple_188.020"/> gewinnen.</p> <p><lb n="ple_188.021"/> Der bloß genießende Leser, der literarische Laie, ist zumeist geneigt, <lb n="ple_188.022"/> einen besonderen Nachdruck auf den Unterschied zwischen erfundenen <lb n="ple_188.023"/> und übernommenen Stoffen zu legen; allein hier belehrt uns die <lb n="ple_188.024"/> geschichtliche Betrachtung in der Tat eines Besseren. Sie zeigt, daß dieser <lb n="ple_188.025"/> Unterschied nur ein relativer ist. Fast jede größere Dichtung geht aus <lb n="ple_188.026"/> Überlieferung <hi rendition="#g">und</hi> Erfindung hervor, nur daß beide in den verschiedenen <lb n="ple_188.027"/> Werken in ungleichem Maße gemischt sind. Auch der scheinbar völlig <lb n="ple_188.028"/> frei erfundene Stoff enthält immer Momente einer literarischen Überlieferung, <lb n="ple_188.029"/> und selbst die in einer festen Tradition übernommene Fabel wird <lb n="ple_188.030"/> der Dichter stets durch eigene Erfindungen seinem Geist und seinem <lb n="ple_188.031"/> künstlerischen Zweck anpassen. „Es erscheint uns“, sagt Fr. Spielhagen <lb n="ple_188.032"/> (Beiträge S. 34), „die Tätigkeit des Künstlers, des Dichters stets in der <lb n="ple_188.033"/> zwiefachen Qualität des Findens und Erfindens, und zwar dergestalt, daß <lb n="ple_188.034"/> nicht etwa das eine Moment nach dem anderen einträte oder die beiden <lb n="ple_188.035"/> Momente nebeneinander wirksam wären, sondern daß sie fortwährend ineinander <lb n="ple_188.036"/> spielen: sich beständig eines in das andere umsetzen. Man kann <lb n="ple_188.037"/> sie deshalb wohl gedanklich immer auseinander halten, aber ihre Einzelexistenz <lb n="ple_188.038"/> in den seltensten Fällen überzeugend nachweisen. Von der einen <lb n="ple_188.039"/> Seite betrachtet, scheint dem Künstler alles gegeben, nichts von ihm erfunden: <lb n="ple_188.040"/> von der anderen alles von ihm erfunden, nichts ihm gegeben. <lb n="ple_188.041"/> Die Wahrheit ist, daß er nichts verwenden kann, wie es gegeben: jedes <lb n="ple_188.042"/> Atom des Erfahrungsstoffes erst durch die Phantasie befruchtet werden <lb n="ple_188.043"/> muß.“</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [188/0202]
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Aesopischen Fabel: von Lessings Fabeln z. B. darf man sagen, daß ple_188.002
sie gewissermaßen epische Epigramme sind. Freilich nähern sie sich eben ple_188.003
hierdurch, wie das Epigramm selber, dem rein Verstandesmäßigen und ple_188.004
damit den Grenzen der Poesie.
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16. Die Stoffgebiete der gegenständlichen Dichtung. Der Lyrik ple_188.006
ist ihr Gebiet ein für allemal gegeben: es ist das Innenleben des Dichters, ple_188.007
sein Fühlen und Denken. Und daß die äußeren Vorgänge, aus denen ple_188.008
die inneren Erlebnisse des Lyrikers und somit indirekt seine Schöpfungen ple_188.009
hervorgehen, für das Verständnis dieser Schöpfungen nicht wesentlich ple_188.010
sind, ist bereits S. 120 f. gezeigt worden. Anders verhält es sich mit ple_188.011
den gegenständlichen Gattungen der Poesie. Zwar kommt auch hier, ple_188.012
wie wir (S. 47, 48) gesehen haben, einer systematischen Inventarisierung ple_188.013
der Stoffe und Motive keine wissenschaftliche Bedeutung zu, und selbst ple_188.014
die geschichtliche Behandlung der einzelnen Motive hat nur einen untergeordneten ple_188.015
Wert für die Einsicht in das Wesen dichterischer Gestaltung. ple_188.016
Betrachtet man aber die Stoffgebiete im großen, die dem Epiker und ple_188.017
Dramatiker zu Gebote stehen und auf denen alle gegenständliche Dichtung ple_188.018
erwächst, so lassen sich für das Verhältnis der Poesie zu bestimmten ple_188.019
allgemeinen Seiten des geistigen Lebens doch mancherlei belehrende Aufschlüsse ple_188.020
gewinnen.
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Der bloß genießende Leser, der literarische Laie, ist zumeist geneigt, ple_188.022
einen besonderen Nachdruck auf den Unterschied zwischen erfundenen ple_188.023
und übernommenen Stoffen zu legen; allein hier belehrt uns die ple_188.024
geschichtliche Betrachtung in der Tat eines Besseren. Sie zeigt, daß dieser ple_188.025
Unterschied nur ein relativer ist. Fast jede größere Dichtung geht aus ple_188.026
Überlieferung und Erfindung hervor, nur daß beide in den verschiedenen ple_188.027
Werken in ungleichem Maße gemischt sind. Auch der scheinbar völlig ple_188.028
frei erfundene Stoff enthält immer Momente einer literarischen Überlieferung, ple_188.029
und selbst die in einer festen Tradition übernommene Fabel wird ple_188.030
der Dichter stets durch eigene Erfindungen seinem Geist und seinem ple_188.031
künstlerischen Zweck anpassen. „Es erscheint uns“, sagt Fr. Spielhagen ple_188.032
(Beiträge S. 34), „die Tätigkeit des Künstlers, des Dichters stets in der ple_188.033
zwiefachen Qualität des Findens und Erfindens, und zwar dergestalt, daß ple_188.034
nicht etwa das eine Moment nach dem anderen einträte oder die beiden ple_188.035
Momente nebeneinander wirksam wären, sondern daß sie fortwährend ineinander ple_188.036
spielen: sich beständig eines in das andere umsetzen. Man kann ple_188.037
sie deshalb wohl gedanklich immer auseinander halten, aber ihre Einzelexistenz ple_188.038
in den seltensten Fällen überzeugend nachweisen. Von der einen ple_188.039
Seite betrachtet, scheint dem Künstler alles gegeben, nichts von ihm erfunden: ple_188.040
von der anderen alles von ihm erfunden, nichts ihm gegeben. ple_188.041
Die Wahrheit ist, daß er nichts verwenden kann, wie es gegeben: jedes ple_188.042
Atom des Erfahrungsstoffes erst durch die Phantasie befruchtet werden ple_188.043
muß.“
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