Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_189.001 ple_189.004 ple_189.016 ple_189.001 ple_189.004 ple_189.016 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0203" n="189"/> <p><lb n="ple_189.001"/> Ist somit dieser Unterschied nicht von prinzipieller Bedeutung, so <lb n="ple_189.002"/> kommt es vielmehr darauf an, die Gebiete festzustellen, die für Überlieferung <lb n="ple_189.003"/> und Erfindung den gemeinsamen Boden bilden.</p> <p><lb n="ple_189.004"/> Das älteste und ehrwürdigste derselben ist der Mythos. Alle ursprüngliche <lb n="ple_189.005"/> Dichtung behandelt ausschließlich mythische Stoffe, und je weiter die <lb n="ple_189.006"/> literarische Forschung in entlegene Zeiten hineingeleuchtet hat, desto deutlicher <lb n="ple_189.007"/> hat sich gezeigt, daß die Ausbildung einer gestaltenden Mythologie <lb n="ple_189.008"/> von der Arbeit dichterischer Formgebung gar nicht zu trennen ist, vielmehr <lb n="ple_189.009"/> beides beständig ineinander greift. Dies gilt auch noch für Zeiten hoher <lb n="ple_189.010"/> Entwicklung, soweit sie den Zusammenhang mit der mythenbildenden <lb n="ple_189.011"/> Anschauung nicht verloren haben, vor allem also für die Epoche der <lb n="ple_189.012"/> griechischen Tragödie. Wir wissen, daß ein großer Teil der Gestalten und <lb n="ple_189.013"/> Fabeln, welche die philologische Überlieferung als griechische Mythologie <lb n="ple_189.014"/> zusammenfaßt, Erfindungen der großen Dichter des 5. Jahrhunderts sind. <lb n="ple_189.015"/> Erst mit dem Absterben des Mythos hört seine Weiterbildung auf.</p> <p><lb n="ple_189.016"/> Wo sich nun aber der Mythos in lebendiger Entwicklung erhält, wo <lb n="ple_189.017"/> er, wie bei den Hellenen, einem künstlerisch regen Gestaltungstrieb entspringt <lb n="ple_189.018"/> und wiederum einen solchen befruchtet, da bringt er der Poesie <lb n="ple_189.019"/> unleugbar die größten Vorteile. Das Volksepos kann, wie die Literaturgeschichte <lb n="ple_189.020"/> lehrt, überhaupt nur auf solchem Boden erwachsen und gedeihen. <lb n="ple_189.021"/> Allerdings von seiner Entstehung können wir uns heute, nachdem <lb n="ple_189.022"/> die Fernsichten, die eine gefällige Phantasie der Wissenschaft zu <lb n="ple_189.023"/> eröffnen schien, als trügerisch erkannt sind, nur schwer eine Anschauung <lb n="ple_189.024"/> machen. Einen deutlichen Begriff aber von dem Wert, den der <lb n="ple_189.025"/> lebendige Mythos für den Künstler hat, gibt uns das Schaffen der griechischen <lb n="ple_189.026"/> Tragiker, das uns nach seinen wesentlichen Bedingungen und Charakterzügen <lb n="ple_189.027"/> wohl bekannt ist. Sicher ist es, daß die Empfänglichkeit eines <lb n="ple_189.028"/> nationalen Publikums auf keinem anderen Gebiete dem Dichter in gleicher <lb n="ple_189.029"/> Weise entgegenkommt, seine Produktion in demselben Maße erleichtert, <lb n="ple_189.030"/> wie auf dem mythologischen. Zunächst findet er hier das unmittelbarste <lb n="ple_189.031"/> Verständnis, denn der Mythos setzt bestimmte Anschauungen nur soweit <lb n="ple_189.032"/> voraus, als das Volk selbst sie hervorgebracht hat, in diesem Falle also <lb n="ple_189.033"/> nur die Kenntnis der Götter und ihrer Bedeutung sowie etwa der allgemeinsten <lb n="ple_189.034"/> poetischen und sozialen Verhältnisse der Heroenzeit. Zum <lb n="ple_189.035"/> Verständnis bedarf es also keinerlei „Bildung“ oder gar Gelehrsamkeit, <lb n="ple_189.036"/> keinerlei Welterfahrung, überhaupt keinen weiteren Gesichtskreis, als ihn <lb n="ple_189.037"/> eben der nationale Horizont bietet. Über diesen technischen Vorzug <lb n="ple_189.038"/> hinaus aber ist es noch wesentlicher, daß sich Dichter und Publikum <lb n="ple_189.039"/> auf einem Gebiete finden, welches beide von vornherein gleichmäßig <lb n="ple_189.040"/> interessiert. Die gemeinsamen Instinkte des Volkslebens, die Richtungen <lb n="ple_189.041"/> der volkstümlichen Phantasie kommen sich hier entgegen und beleben <lb n="ple_189.042"/> die Dichtung wie ihre Wirkungen. Die Lieblingshelden nationaler Überlieferung, <lb n="ple_189.043"/> Agamemnon und Orest, Herakles und Theseus, sind noch ehe </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [189/0203]
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Ist somit dieser Unterschied nicht von prinzipieller Bedeutung, so ple_189.002
kommt es vielmehr darauf an, die Gebiete festzustellen, die für Überlieferung ple_189.003
und Erfindung den gemeinsamen Boden bilden.
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Das älteste und ehrwürdigste derselben ist der Mythos. Alle ursprüngliche ple_189.005
Dichtung behandelt ausschließlich mythische Stoffe, und je weiter die ple_189.006
literarische Forschung in entlegene Zeiten hineingeleuchtet hat, desto deutlicher ple_189.007
hat sich gezeigt, daß die Ausbildung einer gestaltenden Mythologie ple_189.008
von der Arbeit dichterischer Formgebung gar nicht zu trennen ist, vielmehr ple_189.009
beides beständig ineinander greift. Dies gilt auch noch für Zeiten hoher ple_189.010
Entwicklung, soweit sie den Zusammenhang mit der mythenbildenden ple_189.011
Anschauung nicht verloren haben, vor allem also für die Epoche der ple_189.012
griechischen Tragödie. Wir wissen, daß ein großer Teil der Gestalten und ple_189.013
Fabeln, welche die philologische Überlieferung als griechische Mythologie ple_189.014
zusammenfaßt, Erfindungen der großen Dichter des 5. Jahrhunderts sind. ple_189.015
Erst mit dem Absterben des Mythos hört seine Weiterbildung auf.
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Wo sich nun aber der Mythos in lebendiger Entwicklung erhält, wo ple_189.017
er, wie bei den Hellenen, einem künstlerisch regen Gestaltungstrieb entspringt ple_189.018
und wiederum einen solchen befruchtet, da bringt er der Poesie ple_189.019
unleugbar die größten Vorteile. Das Volksepos kann, wie die Literaturgeschichte ple_189.020
lehrt, überhaupt nur auf solchem Boden erwachsen und gedeihen. ple_189.021
Allerdings von seiner Entstehung können wir uns heute, nachdem ple_189.022
die Fernsichten, die eine gefällige Phantasie der Wissenschaft zu ple_189.023
eröffnen schien, als trügerisch erkannt sind, nur schwer eine Anschauung ple_189.024
machen. Einen deutlichen Begriff aber von dem Wert, den der ple_189.025
lebendige Mythos für den Künstler hat, gibt uns das Schaffen der griechischen ple_189.026
Tragiker, das uns nach seinen wesentlichen Bedingungen und Charakterzügen ple_189.027
wohl bekannt ist. Sicher ist es, daß die Empfänglichkeit eines ple_189.028
nationalen Publikums auf keinem anderen Gebiete dem Dichter in gleicher ple_189.029
Weise entgegenkommt, seine Produktion in demselben Maße erleichtert, ple_189.030
wie auf dem mythologischen. Zunächst findet er hier das unmittelbarste ple_189.031
Verständnis, denn der Mythos setzt bestimmte Anschauungen nur soweit ple_189.032
voraus, als das Volk selbst sie hervorgebracht hat, in diesem Falle also ple_189.033
nur die Kenntnis der Götter und ihrer Bedeutung sowie etwa der allgemeinsten ple_189.034
poetischen und sozialen Verhältnisse der Heroenzeit. Zum ple_189.035
Verständnis bedarf es also keinerlei „Bildung“ oder gar Gelehrsamkeit, ple_189.036
keinerlei Welterfahrung, überhaupt keinen weiteren Gesichtskreis, als ihn ple_189.037
eben der nationale Horizont bietet. Über diesen technischen Vorzug ple_189.038
hinaus aber ist es noch wesentlicher, daß sich Dichter und Publikum ple_189.039
auf einem Gebiete finden, welches beide von vornherein gleichmäßig ple_189.040
interessiert. Die gemeinsamen Instinkte des Volkslebens, die Richtungen ple_189.041
der volkstümlichen Phantasie kommen sich hier entgegen und beleben ple_189.042
die Dichtung wie ihre Wirkungen. Die Lieblingshelden nationaler Überlieferung, ple_189.043
Agamemnon und Orest, Herakles und Theseus, sind noch ehe
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