Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_203.001 ple_203.007 1) ple_203.029
Sehr richtig bemerkt Dessoir Ästhetik S. 64 über die naturalistische Theorie: ple_203.030 "Die kunstgeschichtliche Erscheinung, die wir naturalistischen Stil nennen, hängt nur lose ple_203.031 mit den theoretischen Überlegungen zusammen. Vielmehr bedeutet der Naturalismus -- ple_203.032 als eine zeitweilig auftretende Praxis -- vornehmlich Auflehnung gegen absterbende Anschauungen ple_203.033 und Formen. Nicht um naturgetreues Abschildern von Wirklichkeitsausschnitten ple_203.034 handelt es sich also, sondern zunächst um eine neue, zeitgemäße Technik. Die bisherigen ple_203.035 Formen, deren Zeit abgelaufen ist, erscheinen als konventionell, abstrakt, unwahr, und ple_203.036 indem an die Stelle dieser alten Schönheit eine neue Schönheit gesetzt wird, entsteht ple_203.037 begreiflicherweise die Vorstellung, daß ein idealistischer Schönheitswahn durch die Wahrheit ple_203.038 verdrängt worden sei. Da die Menschen geschichtliche Wesen sind und mit der ple_203.039 wechselnden Ordnung der Dinge veränderte Kulturkreise und neue Anschauungen von ple_203.040 Wert und Sinn des Daseins sich schaffen, so versuchen alle Künste, diesen Wandlungen ple_203.041 zu folgen. Jeder Künstler, der die Dinge mit den Augen der Gegenwart anzusehen und ple_203.042 das Geschaute in der seiner Zeit entsprechenden Form auszudrücken vermag, kommt sich ple_203.043 als Naturalist vor. Naturalismus in diesem Sinne ist ein derber Protest gegen abgestorbene ple_203.044 Ideale." ple_203.001 ple_203.007 1) ple_203.029
Sehr richtig bemerkt Dessoir Ästhetik S. 64 über die naturalistische Theorie: ple_203.030 „Die kunstgeschichtliche Erscheinung, die wir naturalistischen Stil nennen, hängt nur lose ple_203.031 mit den theoretischen Überlegungen zusammen. Vielmehr bedeutet der Naturalismus — ple_203.032 als eine zeitweilig auftretende Praxis — vornehmlich Auflehnung gegen absterbende Anschauungen ple_203.033 und Formen. Nicht um naturgetreues Abschildern von Wirklichkeitsausschnitten ple_203.034 handelt es sich also, sondern zunächst um eine neue, zeitgemäße Technik. Die bisherigen ple_203.035 Formen, deren Zeit abgelaufen ist, erscheinen als konventionell, abstrakt, unwahr, und ple_203.036 indem an die Stelle dieser alten Schönheit eine neue Schönheit gesetzt wird, entsteht ple_203.037 begreiflicherweise die Vorstellung, daß ein idealistischer Schönheitswahn durch die Wahrheit ple_203.038 verdrängt worden sei. Da die Menschen geschichtliche Wesen sind und mit der ple_203.039 wechselnden Ordnung der Dinge veränderte Kulturkreise und neue Anschauungen von ple_203.040 Wert und Sinn des Daseins sich schaffen, so versuchen alle Künste, diesen Wandlungen ple_203.041 zu folgen. Jeder Künstler, der die Dinge mit den Augen der Gegenwart anzusehen und ple_203.042 das Geschaute in der seiner Zeit entsprechenden Form auszudrücken vermag, kommt sich ple_203.043 als Naturalist vor. Naturalismus in diesem Sinne ist ein derber Protest gegen abgestorbene ple_203.044 Ideale.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0217" n="203"/><lb n="ple_203.001"/> aber auch in einer Posse wie Molières Malade imaginaire gibt es <lb n="ple_203.002"/> nichts, wovor der Dichter zurückschreckt, und wenig, was nicht gleichwohl <lb n="ple_203.003"/> heute noch mehr oder weniger komisch wirkt. Daß freilich verschiedene <lb n="ple_203.004"/> Zeiten und Kulturstufen gerade diesen Gegenständen gegenüber verschieden <lb n="ple_203.005"/> empfinden, haben wir schon einmal berichtet; es wird uns bei der Betrachtung <lb n="ple_203.006"/> des Komischen noch entgegentreten. —</p> <p><lb n="ple_203.007"/> Haben wir nunmehr ein deutliches Bild von den beiden entgegengesetzten <lb n="ple_203.008"/> Stilrichtungen, ihrem Wesen und ihren Mitteln gewonnen, so ergibt sich <lb n="ple_203.009"/> doch schon aus allem Bisherigen, daß es nicht Sache der Poetik sein kann, <lb n="ple_203.010"/> den Streit zugunsten der einen oder der anderen zu schlichten. Schon <lb n="ple_203.011"/> mit den Anfängen aller menschlichen Kunst verknüpft, wird sich dieser <lb n="ple_203.012"/> Gegensatz durch die Entwicklung der Poesie ziehen, solange es eine solche <lb n="ple_203.013"/> gibt, und es wird von dem Bedürfnis und der Geschmacksrichtung der <lb n="ple_203.014"/> einzelnen Epochen und Kulturen abhängen, wohin sie neigen. Durch <lb n="ple_203.015"/> Streit und Wechsel wird diese Entwicklung, wie alles, was sich in der <lb n="ple_203.016"/> Natur und im Menschen rührt und regt, befruchtet und befördert. Soviel <lb n="ple_203.017"/> aber wird ein unbefangenes und geschichtlich begründetes Urteil feststellen <lb n="ple_203.018"/> dürfen: was die ästhetische Theorie und was insbesondere die Programmschriften <lb n="ple_203.019"/> beider Richtungen an Forderungen und Gesetzen aufstellen, sind <lb n="ple_203.020"/> Extreme. Der Wert, den ein lebendiges Kunstwerk hat, wird niemals davon <lb n="ple_203.021"/> abhängen, wie weit es einer dieser extremen theoretischen Forderungen <lb n="ple_203.022"/> entspricht. Ja, die bedeutendsten Dichtungen der Weltliteratur stellen sehr <lb n="ple_203.023"/> selten reine Typen der einen oder der anderen Gattung dar; sie bewegen <lb n="ple_203.024"/> sich zwischen beiden und neigen nur mehr zu dieser oder jener hin.<note xml:id="ple_203_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_203.029"/> Sehr richtig bemerkt Dessoir <hi rendition="#g">Ästhetik</hi> S. 64 über die naturalistische Theorie: <lb n="ple_203.030"/> „Die kunstgeschichtliche Erscheinung, die wir naturalistischen Stil nennen, hängt nur lose <lb n="ple_203.031"/> mit den theoretischen Überlegungen zusammen. Vielmehr bedeutet der Naturalismus — <lb n="ple_203.032"/> als eine zeitweilig auftretende Praxis — vornehmlich Auflehnung gegen absterbende Anschauungen <lb n="ple_203.033"/> und Formen. Nicht um naturgetreues Abschildern von Wirklichkeitsausschnitten <lb n="ple_203.034"/> handelt es sich also, sondern zunächst um eine neue, zeitgemäße Technik. Die bisherigen <lb n="ple_203.035"/> Formen, deren Zeit abgelaufen ist, erscheinen als konventionell, abstrakt, unwahr, und <lb n="ple_203.036"/> indem an die Stelle dieser alten Schönheit eine neue Schönheit gesetzt wird, entsteht <lb n="ple_203.037"/> begreiflicherweise die Vorstellung, daß ein idealistischer Schönheitswahn durch die Wahrheit <lb n="ple_203.038"/> verdrängt worden sei. Da die Menschen geschichtliche Wesen sind und mit der <lb n="ple_203.039"/> wechselnden Ordnung der Dinge veränderte Kulturkreise und neue Anschauungen von <lb n="ple_203.040"/> Wert und Sinn des Daseins sich schaffen, so versuchen alle Künste, diesen Wandlungen <lb n="ple_203.041"/> zu folgen. 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aber auch in einer Posse wie Molières Malade imaginaire gibt es ple_203.002
nichts, wovor der Dichter zurückschreckt, und wenig, was nicht gleichwohl ple_203.003
heute noch mehr oder weniger komisch wirkt. Daß freilich verschiedene ple_203.004
Zeiten und Kulturstufen gerade diesen Gegenständen gegenüber verschieden ple_203.005
empfinden, haben wir schon einmal berichtet; es wird uns bei der Betrachtung ple_203.006
des Komischen noch entgegentreten. —
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Haben wir nunmehr ein deutliches Bild von den beiden entgegengesetzten ple_203.008
Stilrichtungen, ihrem Wesen und ihren Mitteln gewonnen, so ergibt sich ple_203.009
doch schon aus allem Bisherigen, daß es nicht Sache der Poetik sein kann, ple_203.010
den Streit zugunsten der einen oder der anderen zu schlichten. Schon ple_203.011
mit den Anfängen aller menschlichen Kunst verknüpft, wird sich dieser ple_203.012
Gegensatz durch die Entwicklung der Poesie ziehen, solange es eine solche ple_203.013
gibt, und es wird von dem Bedürfnis und der Geschmacksrichtung der ple_203.014
einzelnen Epochen und Kulturen abhängen, wohin sie neigen. Durch ple_203.015
Streit und Wechsel wird diese Entwicklung, wie alles, was sich in der ple_203.016
Natur und im Menschen rührt und regt, befruchtet und befördert. Soviel ple_203.017
aber wird ein unbefangenes und geschichtlich begründetes Urteil feststellen ple_203.018
dürfen: was die ästhetische Theorie und was insbesondere die Programmschriften ple_203.019
beider Richtungen an Forderungen und Gesetzen aufstellen, sind ple_203.020
Extreme. Der Wert, den ein lebendiges Kunstwerk hat, wird niemals davon ple_203.021
abhängen, wie weit es einer dieser extremen theoretischen Forderungen ple_203.022
entspricht. Ja, die bedeutendsten Dichtungen der Weltliteratur stellen sehr ple_203.023
selten reine Typen der einen oder der anderen Gattung dar; sie bewegen ple_203.024
sich zwischen beiden und neigen nur mehr zu dieser oder jener hin. 1) ple_203.025
Und wie könnte es auch anders sein! Die Pfade, die allzu scharf auf der ple_203.026
Grenze entlanglaufen, führen auf Abwege, welche die Poesie vermeiden wird. ple_203.027
Das Kunstwerk, das nur schön sein will, wird gar zu leicht leer. Die bloße ple_203.028
Schönheit der Form, die des Charakteristischen entbehrt, wird leblos, und
1) ple_203.029
Sehr richtig bemerkt Dessoir Ästhetik S. 64 über die naturalistische Theorie: ple_203.030
„Die kunstgeschichtliche Erscheinung, die wir naturalistischen Stil nennen, hängt nur lose ple_203.031
mit den theoretischen Überlegungen zusammen. Vielmehr bedeutet der Naturalismus — ple_203.032
als eine zeitweilig auftretende Praxis — vornehmlich Auflehnung gegen absterbende Anschauungen ple_203.033
und Formen. Nicht um naturgetreues Abschildern von Wirklichkeitsausschnitten ple_203.034
handelt es sich also, sondern zunächst um eine neue, zeitgemäße Technik. Die bisherigen ple_203.035
Formen, deren Zeit abgelaufen ist, erscheinen als konventionell, abstrakt, unwahr, und ple_203.036
indem an die Stelle dieser alten Schönheit eine neue Schönheit gesetzt wird, entsteht ple_203.037
begreiflicherweise die Vorstellung, daß ein idealistischer Schönheitswahn durch die Wahrheit ple_203.038
verdrängt worden sei. Da die Menschen geschichtliche Wesen sind und mit der ple_203.039
wechselnden Ordnung der Dinge veränderte Kulturkreise und neue Anschauungen von ple_203.040
Wert und Sinn des Daseins sich schaffen, so versuchen alle Künste, diesen Wandlungen ple_203.041
zu folgen. Jeder Künstler, der die Dinge mit den Augen der Gegenwart anzusehen und ple_203.042
das Geschaute in der seiner Zeit entsprechenden Form auszudrücken vermag, kommt sich ple_203.043
als Naturalist vor. Naturalismus in diesem Sinne ist ein derber Protest gegen abgestorbene ple_203.044
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Zitationshilfe: | Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/217>, abgerufen am 16.07.2024. |