Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_212.001 ple_212.013 ple_212.027 ple_212.031 ple_212.001 ple_212.013 ple_212.027 ple_212.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0226" n="212"/><lb n="ple_212.001"/> bringt. Die Phantasie nämlich vermag, wie eben angedeutet, jenen Gegensatz <lb n="ple_212.002"/> zu überwinden und das Ideal als erreicht vorzustellen und auszumalen. <lb n="ple_212.003"/> Schillers Gedichte „das Glück“ und „der Genius“ möchten am besten veranschaulichen, <lb n="ple_212.004"/> was er unter dem Begriff des „<hi rendition="#g">Idylls</hi>“ versteht, im größeren <lb n="ple_212.005"/> Stil auch Dantes Paradies. Im allgemeinen aber liegt es in der Natur der <lb n="ple_212.006"/> Sache, daß Gedichte dieser Gattung selten sein werden, daß die Stimmung, <lb n="ple_212.007"/> aus der sie hervorgehen, die erreichte Harmonie des verwirklichten Ideals, <lb n="ple_212.008"/> für gewöhnlich nur als Teil und zumeist als Schluß einer größeren Dichtung <lb n="ple_212.009"/> auftreten wird, wie in der Apotheose des Faust. Wir haben den Grund schon <lb n="ple_212.010"/> früher (S. 65 f., vgl. S. 110 f.) gesehen, wir wissen, warum Schillers Herakles- <lb n="ple_212.011"/> Idyll nicht zustande gekommen ist: der Dichter bedarf wie der Musiker der <lb n="ple_212.012"/> Disharmonien, und die Darstellung des erreichten Ideals schließt sie aus.</p> <p><lb n="ple_212.013"/> Viel umfangreicher ist daher die Zahl der Dichtungen, welche das <lb n="ple_212.014"/> Ideal als verloren betrachten und beklagen. Schiller faßt sie als <hi rendition="#g">elegische</hi> <lb n="ple_212.015"/> Gattung zusammen: das Wort bedeutet in dem allgemeinen Sinn, in <lb n="ple_212.016"/> welchem er es verwendet, soviel wie <hi rendition="#g">Sehnsuchtspoesie.</hi> Schillers Götter <lb n="ple_212.017"/> Griechenlands bilden den Typus dieser Gattung, aber gerade sie lassen <lb n="ple_212.018"/> deutlich erkennen, daß die Sehnsucht des Dichters keineswegs bloß einer <lb n="ple_212.019"/> sittlichen Vollkommenheit gilt, wie es seine Theorie verlangt. Viele Oden <lb n="ple_212.020"/> Klopstocks, besonders deutlich die „frühen Gräber“, zeigen das gleiche. <lb n="ple_212.021"/> Von Goethe sind „Jägers Abendlied“ und „das zweite Nachtlied des Wanderers“ <lb n="ple_212.022"/> bezeichnende Beispiele. Von Heine gehört ein großer Teil des <lb n="ple_212.023"/> Zyklus „die Nordsee“ (besonders „Nachts in der Kajüte“) und vieles aus <lb n="ple_212.024"/> dem „Buch der Lieder“ hierher. Denn es ist ja wohl klar, daß auch <lb n="ple_212.025"/> erotische Gedichte, in denen die Vereinigung mit der Geliebten das ersehnte <lb n="ple_212.026"/> Ideal darstellt, dabei nicht ausgeschlossen bleiben können.</p> <p><lb n="ple_212.027"/> Einen wesentlich anderen Charakter erhält die Dichtung endlich drittens, <lb n="ple_212.028"/> wenn sie den Ton nicht auf das vermißte Ideal, sondern auf die unvollkommene <lb n="ple_212.029"/> Wirklichkeit legt und hiermit nach Schillers Ausdruck <hi rendition="#g">satirisch</hi> <lb n="ple_212.030"/> wird.</p> <p><lb n="ple_212.031"/> „Der Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideal“ bildet den Gegenstand <lb n="ple_212.032"/> des satirischen Dichters. „Es ist nicht nötig, daß das letztere ausgesprochen <lb n="ple_212.033"/> werde, wenn der Dichter es nur im Gemüt zu erwecken weiß; <lb n="ple_212.034"/> dies muß er aber schlechterdings, oder er wird gar nicht poetisch wirken. <lb n="ple_212.035"/> Die Wirklichkeit ist also hier ein notwendiges Objekt der Abneigung; aber <lb n="ple_212.036"/> worauf hier alles ankommt, diese Abneigung selbst muß wieder notwendig <lb n="ple_212.037"/> aus dem entgegenstehenden Ideale entspringen.“ Die Satire kann entweder <lb n="ple_212.038"/> scherzhaft oder pathetisch und strafend sein. Jenes ist sie, wenn sie die <lb n="ple_212.039"/> Unvollkommenheit des Wirklichen nur von seiten des Verstandes, dieses, <lb n="ple_212.040"/> wenn sie von dem Gebiete des Willens aus, unter dem Gesichtspunkt des <lb n="ple_212.041"/> Sittengesetzes das Leben beleuchtet. Für die scherzhafte oder spottende <lb n="ple_212.042"/> Satire führt Schiller neben Lucian den Don Quichote, Sternes Yorik, <lb n="ple_212.043"/> Wielands Dichtungen und mit minderer Anerkennung Voltaire an; für die </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [212/0226]
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bringt. Die Phantasie nämlich vermag, wie eben angedeutet, jenen Gegensatz ple_212.002
zu überwinden und das Ideal als erreicht vorzustellen und auszumalen. ple_212.003
Schillers Gedichte „das Glück“ und „der Genius“ möchten am besten veranschaulichen, ple_212.004
was er unter dem Begriff des „Idylls“ versteht, im größeren ple_212.005
Stil auch Dantes Paradies. Im allgemeinen aber liegt es in der Natur der ple_212.006
Sache, daß Gedichte dieser Gattung selten sein werden, daß die Stimmung, ple_212.007
aus der sie hervorgehen, die erreichte Harmonie des verwirklichten Ideals, ple_212.008
für gewöhnlich nur als Teil und zumeist als Schluß einer größeren Dichtung ple_212.009
auftreten wird, wie in der Apotheose des Faust. Wir haben den Grund schon ple_212.010
früher (S. 65 f., vgl. S. 110 f.) gesehen, wir wissen, warum Schillers Herakles- ple_212.011
Idyll nicht zustande gekommen ist: der Dichter bedarf wie der Musiker der ple_212.012
Disharmonien, und die Darstellung des erreichten Ideals schließt sie aus.
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Viel umfangreicher ist daher die Zahl der Dichtungen, welche das ple_212.014
Ideal als verloren betrachten und beklagen. Schiller faßt sie als elegische ple_212.015
Gattung zusammen: das Wort bedeutet in dem allgemeinen Sinn, in ple_212.016
welchem er es verwendet, soviel wie Sehnsuchtspoesie. Schillers Götter ple_212.017
Griechenlands bilden den Typus dieser Gattung, aber gerade sie lassen ple_212.018
deutlich erkennen, daß die Sehnsucht des Dichters keineswegs bloß einer ple_212.019
sittlichen Vollkommenheit gilt, wie es seine Theorie verlangt. Viele Oden ple_212.020
Klopstocks, besonders deutlich die „frühen Gräber“, zeigen das gleiche. ple_212.021
Von Goethe sind „Jägers Abendlied“ und „das zweite Nachtlied des Wanderers“ ple_212.022
bezeichnende Beispiele. Von Heine gehört ein großer Teil des ple_212.023
Zyklus „die Nordsee“ (besonders „Nachts in der Kajüte“) und vieles aus ple_212.024
dem „Buch der Lieder“ hierher. Denn es ist ja wohl klar, daß auch ple_212.025
erotische Gedichte, in denen die Vereinigung mit der Geliebten das ersehnte ple_212.026
Ideal darstellt, dabei nicht ausgeschlossen bleiben können.
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Einen wesentlich anderen Charakter erhält die Dichtung endlich drittens, ple_212.028
wenn sie den Ton nicht auf das vermißte Ideal, sondern auf die unvollkommene ple_212.029
Wirklichkeit legt und hiermit nach Schillers Ausdruck satirisch ple_212.030
wird.
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„Der Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideal“ bildet den Gegenstand ple_212.032
des satirischen Dichters. „Es ist nicht nötig, daß das letztere ausgesprochen ple_212.033
werde, wenn der Dichter es nur im Gemüt zu erwecken weiß; ple_212.034
dies muß er aber schlechterdings, oder er wird gar nicht poetisch wirken. ple_212.035
Die Wirklichkeit ist also hier ein notwendiges Objekt der Abneigung; aber ple_212.036
worauf hier alles ankommt, diese Abneigung selbst muß wieder notwendig ple_212.037
aus dem entgegenstehenden Ideale entspringen.“ Die Satire kann entweder ple_212.038
scherzhaft oder pathetisch und strafend sein. Jenes ist sie, wenn sie die ple_212.039
Unvollkommenheit des Wirklichen nur von seiten des Verstandes, dieses, ple_212.040
wenn sie von dem Gebiete des Willens aus, unter dem Gesichtspunkt des ple_212.041
Sittengesetzes das Leben beleuchtet. Für die scherzhafte oder spottende ple_212.042
Satire führt Schiller neben Lucian den Don Quichote, Sternes Yorik, ple_212.043
Wielands Dichtungen und mit minderer Anerkennung Voltaire an; für die
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