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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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pathetische "Juvenal, Swift, Haller". -- Ob die Grenzlinie zwischen beiden ple_213.002
Arten ebenso richtig gezogen ist, wie sie scharf erscheint, werden wir ple_213.003
später (S. 232 f.) Gelegenheit haben zu untersuchen. Jedenfalls ist die Einführung ple_213.004
des Begriffs der pathetischen Satire einer der fruchtbarsten Gedanken ple_213.005
dieser geistvollen Abhandlung: wie die großen Satiriker des späteren ple_213.006
Roms, besonders Persius und Juvenal, erst hierdurch an die richtige Stelle ple_213.007
treten, so rücken auch Schillers eigene Jugendwerke in ein neues Licht.

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Überhaupt sind diese Gesichtspunkte und Einteilungen für die literarhistorische ple_213.009
wie für die kritische Betrachtung höchst wertvoll. Schon die ple_213.010
Charakteristiken älterer und zeitgenössischer Dichter, die Schiller selbst an ple_213.011
sie knüpft, beweisen das. Gewisse Forderungen, wie die, welche er gegenüber ple_213.012
dem einseitigen Naturalismus und Idealismus erhebt, können nicht ple_213.013
besser und tiefer begründet werden, als das hier geschieht. Gleichwohl ple_213.014
erheben sich gegen das Hauptergebnis seiner Betrachtungen noch einige ple_213.015
wesentliche Bedenken, die zwar nicht zu einer Widerlegung, wohl aber zu ple_213.016
einer Einschränkung führen.

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Offenbar nämlich ist es ein Irrtum Schillers, wenn er glaubt, aus der ple_213.018
Unterscheidung der naiven und sentimentalischen Poesie zwei absolut verschiedene ple_213.019
Kunstgattungen und gar zwei ebenso entgegengesetzte Arten von ple_213.020
Dichtern ableiten zu können. Er selbst gibt zu, daß jedes wahre Genie ple_213.021
naiv sein muß ("seine Naivetät allein macht es zum Genie"), daß auch ple_213.022
der sentimentalische Dichter im einzelnen durch naive Schönheit rühren ple_213.023
muß ("ohne das würde er überhaupt kein Dichter sein"), und daß man ple_213.024
"nicht nur in demselben Dichter, auch in denselben Werken häufig beide ple_213.025
Gattungen vereinigt antrifft". Schon aus den angeführten Wendungen ple_213.026
scheint daher hervorzugehen, daß jede Dichtung als solche zunächst naiv ple_213.027
oder genauer objektiv sein, d. h. daß sie ein unmittelbares Erlebnis, ein ple_213.028
Stück Wirklichkeit darstellen oder wenigstens andeuten muß. In der sentimentalischen ple_213.029
Dichtung kommt nun noch etwas hinzu; sie enthält objektive ple_213.030
Darstellung und subjektives Sentiment, und ihre Arten und Möglichkeiten ple_213.031
unterscheiden sich nach der Verschiedenheit dieser begleitenden ple_213.032
Empfindung, während sie andrerseits auf der gemeinsamen Grundlage beruhen, ple_213.033
aus der auch die naive Dichtung erwächst.

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In der Tat kann es nur in der Lyrik Dichtungen geben, in denen ple_213.035
die objektive Grundlage, das Erlebnis als solches, gänzlich getilgt oder ple_213.036
doch nur durch leise Andeutungen ersetzt ist. Wir haben solche Gedichte ple_213.037
in unserer Betrachtung der Lyrik kennen gelernt: ich erinnere ple_213.038
zur Veranschaulichung an Novalis' Hymnen an die Nacht, an Goethes ple_213.039
Ganymed, an Hölderlins Schicksalslied; auch manche Liebeslieder gehören ple_213.040
hierher, besonders kleinere, die nichts als der Ausdruck der Sehnsucht ple_213.041
oder des Glücks sind. Freilich kann auch, wie Schiller richtig bemerkt, ple_213.042
ein rein innerliches Erlebnis objektiv dargestellt, also ein sentimentalischer ple_213.043
Stoff naiv behandelt werden. Mit dem Beispiel, das Schiller dafür gibt,

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pathetische „Juvenal, Swift, Haller“. — Ob die Grenzlinie zwischen beiden ple_213.002
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Roms, besonders Persius und Juvenal, erst hierdurch an die richtige Stelle ple_213.007
treten, so rücken auch Schillers eigene Jugendwerke in ein neues Licht.

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Überhaupt sind diese Gesichtspunkte und Einteilungen für die literarhistorische ple_213.009
wie für die kritische Betrachtung höchst wertvoll. Schon die ple_213.010
Charakteristiken älterer und zeitgenössischer Dichter, die Schiller selbst an ple_213.011
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besser und tiefer begründet werden, als das hier geschieht. Gleichwohl ple_213.014
erheben sich gegen das Hauptergebnis seiner Betrachtungen noch einige ple_213.015
wesentliche Bedenken, die zwar nicht zu einer Widerlegung, wohl aber zu ple_213.016
einer Einschränkung führen.

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Offenbar nämlich ist es ein Irrtum Schillers, wenn er glaubt, aus der ple_213.018
Unterscheidung der naiven und sentimentalischen Poesie zwei absolut verschiedene ple_213.019
Kunstgattungen und gar zwei ebenso entgegengesetzte Arten von ple_213.020
Dichtern ableiten zu können. Er selbst gibt zu, daß jedes wahre Genie ple_213.021
naiv sein muß („seine Naivetät allein macht es zum Genie“), daß auch ple_213.022
der sentimentalische Dichter im einzelnen durch naive Schönheit rühren ple_213.023
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„nicht nur in demselben Dichter, auch in denselben Werken häufig beide ple_213.025
Gattungen vereinigt antrifft“. Schon aus den angeführten Wendungen ple_213.026
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oder genauer objektiv sein, d. h. daß sie ein unmittelbares Erlebnis, ein ple_213.028
Stück Wirklichkeit darstellen oder wenigstens andeuten muß. In der sentimentalischen ple_213.029
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Darstellung und subjektives Sentiment, und ihre Arten und Möglichkeiten ple_213.031
unterscheiden sich nach der Verschiedenheit dieser begleitenden ple_213.032
Empfindung, während sie andrerseits auf der gemeinsamen Grundlage beruhen, ple_213.033
aus der auch die naive Dichtung erwächst.

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In der Tat kann es nur in der Lyrik Dichtungen geben, in denen ple_213.035
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doch nur durch leise Andeutungen ersetzt ist. Wir haben solche Gedichte ple_213.037
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[213/0227] ple_213.001 pathetische „Juvenal, Swift, Haller“. — Ob die Grenzlinie zwischen beiden ple_213.002 Arten ebenso richtig gezogen ist, wie sie scharf erscheint, werden wir ple_213.003 später (S. 232 f.) Gelegenheit haben zu untersuchen. Jedenfalls ist die Einführung ple_213.004 des Begriffs der pathetischen Satire einer der fruchtbarsten Gedanken ple_213.005 dieser geistvollen Abhandlung: wie die großen Satiriker des späteren ple_213.006 Roms, besonders Persius und Juvenal, erst hierdurch an die richtige Stelle ple_213.007 treten, so rücken auch Schillers eigene Jugendwerke in ein neues Licht. ple_213.008 Überhaupt sind diese Gesichtspunkte und Einteilungen für die literarhistorische ple_213.009 wie für die kritische Betrachtung höchst wertvoll. Schon die ple_213.010 Charakteristiken älterer und zeitgenössischer Dichter, die Schiller selbst an ple_213.011 sie knüpft, beweisen das. Gewisse Forderungen, wie die, welche er gegenüber ple_213.012 dem einseitigen Naturalismus und Idealismus erhebt, können nicht ple_213.013 besser und tiefer begründet werden, als das hier geschieht. Gleichwohl ple_213.014 erheben sich gegen das Hauptergebnis seiner Betrachtungen noch einige ple_213.015 wesentliche Bedenken, die zwar nicht zu einer Widerlegung, wohl aber zu ple_213.016 einer Einschränkung führen. ple_213.017 Offenbar nämlich ist es ein Irrtum Schillers, wenn er glaubt, aus der ple_213.018 Unterscheidung der naiven und sentimentalischen Poesie zwei absolut verschiedene ple_213.019 Kunstgattungen und gar zwei ebenso entgegengesetzte Arten von ple_213.020 Dichtern ableiten zu können. Er selbst gibt zu, daß jedes wahre Genie ple_213.021 naiv sein muß („seine Naivetät allein macht es zum Genie“), daß auch ple_213.022 der sentimentalische Dichter im einzelnen durch naive Schönheit rühren ple_213.023 muß („ohne das würde er überhaupt kein Dichter sein“), und daß man ple_213.024 „nicht nur in demselben Dichter, auch in denselben Werken häufig beide ple_213.025 Gattungen vereinigt antrifft“. Schon aus den angeführten Wendungen ple_213.026 scheint daher hervorzugehen, daß jede Dichtung als solche zunächst naiv ple_213.027 oder genauer objektiv sein, d. h. daß sie ein unmittelbares Erlebnis, ein ple_213.028 Stück Wirklichkeit darstellen oder wenigstens andeuten muß. In der sentimentalischen ple_213.029 Dichtung kommt nun noch etwas hinzu; sie enthält objektive ple_213.030 Darstellung und subjektives Sentiment, und ihre Arten und Möglichkeiten ple_213.031 unterscheiden sich nach der Verschiedenheit dieser begleitenden ple_213.032 Empfindung, während sie andrerseits auf der gemeinsamen Grundlage beruhen, ple_213.033 aus der auch die naive Dichtung erwächst. ple_213.034 In der Tat kann es nur in der Lyrik Dichtungen geben, in denen ple_213.035 die objektive Grundlage, das Erlebnis als solches, gänzlich getilgt oder ple_213.036 doch nur durch leise Andeutungen ersetzt ist. Wir haben solche Gedichte ple_213.037 in unserer Betrachtung der Lyrik kennen gelernt: ich erinnere ple_213.038 zur Veranschaulichung an Novalis' Hymnen an die Nacht, an Goethes ple_213.039 Ganymed, an Hölderlins Schicksalslied; auch manche Liebeslieder gehören ple_213.040 hierher, besonders kleinere, die nichts als der Ausdruck der Sehnsucht ple_213.041 oder des Glücks sind. Freilich kann auch, wie Schiller richtig bemerkt, ple_213.042 ein rein innerliches Erlebnis objektiv dargestellt, also ein sentimentalischer ple_213.043 Stoff naiv behandelt werden. Mit dem Beispiel, das Schiller dafür gibt,

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/227>, abgerufen am 21.11.2024.