Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_214.001 ple_214.030 ple_214.041 ple_214.001 ple_214.030 ple_214.041 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0228" n="214"/><lb n="ple_214.001"/> dem Werther, vergreift er sich freilich; aber vielen Volksliedern („Wenn ich <lb n="ple_214.002"/> ein Vöglein wär'“) und manchen ihnen nachgebildeten Gedichten, wie <lb n="ple_214.003"/> Eichendorffs „Wohin ich geh' und schaue“, wird niemand den Charakter <lb n="ple_214.004"/> der Naivetät absprechen. — Diese rein subjektiven Gedichte also stellen <lb n="ple_214.005"/> ein Extrem dar, dem als Gegenpol die rein objektiven Dichtungen entsprechen <lb n="ple_214.006"/> würden. Das Volksepos der Griechen und der Deutschen, die <lb n="ple_214.007"/> Dramen Shakespeares bilden solche Gegenpole. Der objektive Charakter <lb n="ple_214.008"/> dieser Dichtungen ist zweifellos. „Das Objekt besitzt der Dichter gänzlich, <lb n="ple_214.009"/> sein Herz liegt nicht wie ein schlechtes Metall gleich unter der Oberfläche, <lb n="ple_214.010"/> sondern will, wie das Gold, in der Tiefe gesucht sein. Wie die <lb n="ple_214.011"/> Gottheit hinter dem Weltgebäude, so steht er hinter seinem Werk, er ist <lb n="ple_214.012"/> das Werk und das Werk ist er; man muß des erstern schon nicht wert <lb n="ple_214.013"/> oder nicht mächtig oder schon satt sein, um nach ihm nur zu fragen.“ <lb n="ple_214.014"/> Diese Charakteristik ist ebenso schön wie zutreffend. Ob aber darum das <lb n="ple_214.015"/> Subjekt des Dichters gänzlich ausgetilgt ist, wird man gleichwohl bezweifeln <lb n="ple_214.016"/> müssen, wie uns das unsere Betrachtung der epischen Poesie gelehrt <lb n="ple_214.017"/> hat. Die Parteinahme des Dichters, wenn er Kämpfe, zumal wenn <lb n="ple_214.018"/> er den Untergang seiner Helden schildert, ist selbst bei Homer, besonders <lb n="ple_214.019"/> aber im Nibelungenlied, fühlbar genug, auch wenn sie nicht unmittelbar <lb n="ple_214.020"/> ausgesprochen wird (vgl. oben S. 147 f.). Shakespeares Bestreben, eine <lb n="ple_214.021"/> moralische Weltordnung zur Geltung zu bringen, tritt in fast allen seinen <lb n="ple_214.022"/> Dramen deutlich genug hervor. Zwischen beiden Extremen nun aber zieht <lb n="ple_214.023"/> sich verbindend eine lange Kette hin, deren Glieder die verschiedensten <lb n="ple_214.024"/> Dichterindividualitäten darstellen und stets aus einer verschiedenen Mischung <lb n="ple_214.025"/> objektiver und subjektiver Elemente gebildet sind. Auch hier also gibt die <lb n="ple_214.026"/> Wirklichkeit nicht die Schärfe einer zugespitzten Begriffsantithese wieder, <lb n="ple_214.027"/> wie Schiller sie liebte, sie zeigt vielmehr, ebenso wie bei dem Verhältnis <lb n="ple_214.028"/> von Naturalismus und Idealstil, eine skalenartige Reihe, die von einem <lb n="ple_214.029"/> Gegensatz zum anderen führt.</p> <p><lb n="ple_214.030"/> Endlich fragt es sich, ob Schiller mit seiner Klassifikation, insbesondere <lb n="ple_214.031"/> mit der Dreiteilung der sentimentalischen Poesie, tatsächlich alle möglichen <lb n="ple_214.032"/> Stellungnahmen des Dichters zur Wirklichkeit und zum Ideal erschöpft <lb n="ple_214.033"/> hat. Wie steht es mit der Weltauffassung des Tragikers, wie mit <lb n="ple_214.034"/> der des Humoristen? Schiller setzt zwar offenbar die Tragödie mit der <lb n="ple_214.035"/> ernsthaften Satire, die Komödie mit der scherzhaften gleich. Allein hierdurch <lb n="ple_214.036"/> werden beide Begriffe enger umgrenzt, als es der literarischen Überlieferung <lb n="ple_214.037"/> und der dichterischen Praxis entspricht, und es ist daher vielmehr <lb n="ple_214.038"/> wahrscheinlich, daß wir in der Tragik sowohl wie im Humor eigenartige <lb n="ple_214.039"/> Positionen vor uns haben, die den von Schiller aufgestellten selbständig zur <lb n="ple_214.040"/> Seite treten. Die Untersuchung ihres Wesens wird uns darüber belehren.</p> <p><lb n="ple_214.041"/> Bevor wir jedoch das Wesen des Humors und sein Verhältnis zur <lb n="ple_214.042"/> Satire durchschauen können, ist es nötig, die Natur des Komischen überhaupt <lb n="ple_214.043"/> ins Auge zu fassen, aus der beide erst völlig verständlich werden.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [214/0228]
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dem Werther, vergreift er sich freilich; aber vielen Volksliedern („Wenn ich ple_214.002
ein Vöglein wär'“) und manchen ihnen nachgebildeten Gedichten, wie ple_214.003
Eichendorffs „Wohin ich geh' und schaue“, wird niemand den Charakter ple_214.004
der Naivetät absprechen. — Diese rein subjektiven Gedichte also stellen ple_214.005
ein Extrem dar, dem als Gegenpol die rein objektiven Dichtungen entsprechen ple_214.006
würden. Das Volksepos der Griechen und der Deutschen, die ple_214.007
Dramen Shakespeares bilden solche Gegenpole. Der objektive Charakter ple_214.008
dieser Dichtungen ist zweifellos. „Das Objekt besitzt der Dichter gänzlich, ple_214.009
sein Herz liegt nicht wie ein schlechtes Metall gleich unter der Oberfläche, ple_214.010
sondern will, wie das Gold, in der Tiefe gesucht sein. Wie die ple_214.011
Gottheit hinter dem Weltgebäude, so steht er hinter seinem Werk, er ist ple_214.012
das Werk und das Werk ist er; man muß des erstern schon nicht wert ple_214.013
oder nicht mächtig oder schon satt sein, um nach ihm nur zu fragen.“ ple_214.014
Diese Charakteristik ist ebenso schön wie zutreffend. Ob aber darum das ple_214.015
Subjekt des Dichters gänzlich ausgetilgt ist, wird man gleichwohl bezweifeln ple_214.016
müssen, wie uns das unsere Betrachtung der epischen Poesie gelehrt ple_214.017
hat. Die Parteinahme des Dichters, wenn er Kämpfe, zumal wenn ple_214.018
er den Untergang seiner Helden schildert, ist selbst bei Homer, besonders ple_214.019
aber im Nibelungenlied, fühlbar genug, auch wenn sie nicht unmittelbar ple_214.020
ausgesprochen wird (vgl. oben S. 147 f.). Shakespeares Bestreben, eine ple_214.021
moralische Weltordnung zur Geltung zu bringen, tritt in fast allen seinen ple_214.022
Dramen deutlich genug hervor. Zwischen beiden Extremen nun aber zieht ple_214.023
sich verbindend eine lange Kette hin, deren Glieder die verschiedensten ple_214.024
Dichterindividualitäten darstellen und stets aus einer verschiedenen Mischung ple_214.025
objektiver und subjektiver Elemente gebildet sind. Auch hier also gibt die ple_214.026
Wirklichkeit nicht die Schärfe einer zugespitzten Begriffsantithese wieder, ple_214.027
wie Schiller sie liebte, sie zeigt vielmehr, ebenso wie bei dem Verhältnis ple_214.028
von Naturalismus und Idealstil, eine skalenartige Reihe, die von einem ple_214.029
Gegensatz zum anderen führt.
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Endlich fragt es sich, ob Schiller mit seiner Klassifikation, insbesondere ple_214.031
mit der Dreiteilung der sentimentalischen Poesie, tatsächlich alle möglichen ple_214.032
Stellungnahmen des Dichters zur Wirklichkeit und zum Ideal erschöpft ple_214.033
hat. Wie steht es mit der Weltauffassung des Tragikers, wie mit ple_214.034
der des Humoristen? Schiller setzt zwar offenbar die Tragödie mit der ple_214.035
ernsthaften Satire, die Komödie mit der scherzhaften gleich. Allein hierdurch ple_214.036
werden beide Begriffe enger umgrenzt, als es der literarischen Überlieferung ple_214.037
und der dichterischen Praxis entspricht, und es ist daher vielmehr ple_214.038
wahrscheinlich, daß wir in der Tragik sowohl wie im Humor eigenartige ple_214.039
Positionen vor uns haben, die den von Schiller aufgestellten selbständig zur ple_214.040
Seite treten. Die Untersuchung ihres Wesens wird uns darüber belehren.
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Bevor wir jedoch das Wesen des Humors und sein Verhältnis zur ple_214.042
Satire durchschauen können, ist es nötig, die Natur des Komischen überhaupt ple_214.043
ins Auge zu fassen, aus der beide erst völlig verständlich werden.
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