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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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19. Das Komische.

Die Frage nach der Natur des Komischen zeigt ple_215.002
uns eine sonderbare Erscheinung. Täglich in Leben und Lektüre stoßen ple_215.003
wir auf Gegenstände und Vorgänge, die wir als lächerlich oder belustigend ple_215.004
empfinden, und doch, sobald wir uns fragen, durch welche Eigenschaft ple_215.005
diese Wirkung hervorgebracht wird, so gleitet sie uns gleichsam aus ple_215.006
der Hand und weicht vor unseren Augen ins Nebelhafte zurück. Auch ple_215.007
die Wissenschaft hat vergeblich versucht, durch psychologische Analyse ple_215.008
dem Phänomen auf den Grund zu kommen; sie ist bisher noch nicht zu ple_215.009
einer einheitlichen Auffassung gelangt. Die Erklärungen, welche die Ästhetik ple_215.010
im Laufe ihrer Entwicklung vom Wesen des Komischen aufgestellt hat, ple_215.011
bieten ein buntes, verworrenes Bild; eine Auffassung wird von einer anderen ple_215.012
bekämpft und verdrängt, die frühere gelegentlich von einem späteren ple_215.013
Denker wieder aufgenommen; nicht selten, zumal in der neuesten Zeit, ple_215.014
treten uns auch Versuche entgegen, Abweichendes zu vereinigen oder zu ple_215.015
verschmelzen.

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Lehrreich ist zunächst ein kurzer Überblick: selbstverständlich kann es sich nur ple_215.017
um die geschichtlich wichtigsten oder sachlich bedeutendsten Erklärungsversuche handeln.

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Auch hier steht Aristoteles an der Spitze. Seine oft angeführte Definition des ple_215.019
Lächerlichen lautet: es sei "eine schmerzlose und unschädliche Unzulänglichkeit und ple_215.020
Häßlichkeit". (to geloion estin amartema ti kai aiskhos anodunon kai ou phthartikon. Poetik Kap. 5.)

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Nicht länger noch eingehender ist die Definition Lessings (Dramaturgie Stück 28). ple_215.022
"Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich."

ple_215.023
Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (Werke Bd. 18 S. 202 f.): "Wenn nun der Verstand ple_215.024
eine solche Reihe von Verhältnissen auf die leichteste, kürzeste Weise während der dunkeln ple_215.025
Perspektive einer anderen wahren zugleich zu überschauen bekommt: könnte man dann ple_215.026
nicht den Witz, als eine so vielfach und so leicht spielende Tätigkeit, den angeschaueten ple_215.027
oder ästhetischen Verstand nennen, wie das Erhabene die angeschauete Vernunftidee und ple_215.028
das Komische den angeschaueten Unverstand?"

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Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung § 13: "Das Lachen entsteht ple_215.030
jedesmal aus nichts anderem als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen ple_215.031
einem Begriff und dem realen Objekt, das durch ihn in irgend einer Beziehung gedacht ple_215.032
worden war, und es ist selbst eben nur der Ausdruck dieser Inkongruenz. -- Je richtiger ple_215.033
nun einerseits die Subsumtion solcher Wirklichkeiten unter den Begriff ist, und je größer ple_215.034
und greller andrerseits ihre Unangemessenheit zu ihm, desto stärker ist die aus diesem ple_215.035
Gegensatz entspringende Wirkung des Lächerlichen."

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Unter den neueren Psychologen ist zuerst Fechner dem Problem des Komischen ple_215.037
näher getreten. (Vorschule der Ästhetik I S. 221 ff.) Er führt "die Fälle, welche den ple_215.038
Charakter der Ergötzlichkeit, Lustigkeit, Lächerlichkeit tragen", auf das "Prinzip der einheitlichen ple_215.039
Verknüpfung des Mannigfaltigen" zurück. Insbesondere "erwecken uns Vergleiche ple_215.040
wie Wortspiele um so größeres Gefallen und finden wir sie um so leichter lustig und ple_215.041
selbst lächerlich, je treffender, leichter faßlich die einheitliche Verknüpfung einerseits, je ple_215.042
größer die Verschiedenheit oder der anscheinende Widerspruch, der dadurch vermittelt ple_215.043
wird, andrerseits, je ungeläufiger, unerwarteter, überraschender, fernerliegend die Weise ple_215.044
der Verknüpfung drittens ist."

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Etwas abweichend Wundt (Grundzüge der physiologischen Psychologie, 4. Aufl., ple_215.046
Bd. 2): "Beim Komischen stehen die einzelnen Vorstellungen, welche ein Ganzes der Anschauung ple_215.047
oder des Gedankens bilden, untereinander oder mit der Art ihrer Zusammenfassung ple_215.048
teils in Widerspruch, teils stimmen sie zusammen. So entsteht ein Wechsel der

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19. Das Komische.

Die Frage nach der Natur des Komischen zeigt ple_215.002
uns eine sonderbare Erscheinung. Täglich in Leben und Lektüre stoßen ple_215.003
wir auf Gegenstände und Vorgänge, die wir als lächerlich oder belustigend ple_215.004
empfinden, und doch, sobald wir uns fragen, durch welche Eigenschaft ple_215.005
diese Wirkung hervorgebracht wird, so gleitet sie uns gleichsam aus ple_215.006
der Hand und weicht vor unseren Augen ins Nebelhafte zurück. Auch ple_215.007
die Wissenschaft hat vergeblich versucht, durch psychologische Analyse ple_215.008
dem Phänomen auf den Grund zu kommen; sie ist bisher noch nicht zu ple_215.009
einer einheitlichen Auffassung gelangt. Die Erklärungen, welche die Ästhetik ple_215.010
im Laufe ihrer Entwicklung vom Wesen des Komischen aufgestellt hat, ple_215.011
bieten ein buntes, verworrenes Bild; eine Auffassung wird von einer anderen ple_215.012
bekämpft und verdrängt, die frühere gelegentlich von einem späteren ple_215.013
Denker wieder aufgenommen; nicht selten, zumal in der neuesten Zeit, ple_215.014
treten uns auch Versuche entgegen, Abweichendes zu vereinigen oder zu ple_215.015
verschmelzen.

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Lehrreich ist zunächst ein kurzer Überblick: selbstverständlich kann es sich nur ple_215.017
um die geschichtlich wichtigsten oder sachlich bedeutendsten Erklärungsversuche handeln.

ple_215.018
Auch hier steht Aristoteles an der Spitze. Seine oft angeführte Definition des ple_215.019
Lächerlichen lautet: es sei „eine schmerzlose und unschädliche Unzulänglichkeit und ple_215.020
Häßlichkeit“. (τὸ γελοῖόν ἐστιν ἁμάρτημα τι καὶ αἶσχος ἀνώδυνον καὶ οὐ φθαρτικόν. Poetik Kap. 5.)

ple_215.021
Nicht länger noch eingehender ist die Definition Lessings (Dramaturgie Stück 28). ple_215.022
„Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich.“

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Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (Werke Bd. 18 S. 202 f.): „Wenn nun der Verstand ple_215.024
eine solche Reihe von Verhältnissen auf die leichteste, kürzeste Weise während der dunkeln ple_215.025
Perspektive einer anderen wahren zugleich zu überschauen bekommt: könnte man dann ple_215.026
nicht den Witz, als eine so vielfach und so leicht spielende Tätigkeit, den angeschaueten ple_215.027
oder ästhetischen Verstand nennen, wie das Erhabene die angeschauete Vernunftidee und ple_215.028
das Komische den angeschaueten Unverstand?“

ple_215.029
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung § 13: „Das Lachen entsteht ple_215.030
jedesmal aus nichts anderem als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen ple_215.031
einem Begriff und dem realen Objekt, das durch ihn in irgend einer Beziehung gedacht ple_215.032
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und greller andrerseits ihre Unangemessenheit zu ihm, desto stärker ist die aus diesem ple_215.035
Gegensatz entspringende Wirkung des Lächerlichen.“

ple_215.036
Unter den neueren Psychologen ist zuerst Fechner dem Problem des Komischen ple_215.037
näher getreten. (Vorschule der Ästhetik I S. 221 ff.) Er führt „die Fälle, welche den ple_215.038
Charakter der Ergötzlichkeit, Lustigkeit, Lächerlichkeit tragen“, auf das „Prinzip der einheitlichen ple_215.039
Verknüpfung des Mannigfaltigen“ zurück. Insbesondere „erwecken uns Vergleiche ple_215.040
wie Wortspiele um so größeres Gefallen und finden wir sie um so leichter lustig und ple_215.041
selbst lächerlich, je treffender, leichter faßlich die einheitliche Verknüpfung einerseits, je ple_215.042
größer die Verschiedenheit oder der anscheinende Widerspruch, der dadurch vermittelt ple_215.043
wird, andrerseits, je ungeläufiger, unerwarteter, überraschender, fernerliegend die Weise ple_215.044
der Verknüpfung drittens ist.“

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Etwas abweichend Wundt (Grundzüge der physiologischen Psychologie, 4. Aufl., ple_215.046
Bd. 2): „Beim Komischen stehen die einzelnen Vorstellungen, welche ein Ganzes der Anschauung ple_215.047
oder des Gedankens bilden, untereinander oder mit der Art ihrer Zusammenfassung ple_215.048
teils in Widerspruch, teils stimmen sie zusammen. So entsteht ein Wechsel der

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[215/0229] ple_215.001 19. Das Komische. Die Frage nach der Natur des Komischen zeigt ple_215.002 uns eine sonderbare Erscheinung. Täglich in Leben und Lektüre stoßen ple_215.003 wir auf Gegenstände und Vorgänge, die wir als lächerlich oder belustigend ple_215.004 empfinden, und doch, sobald wir uns fragen, durch welche Eigenschaft ple_215.005 diese Wirkung hervorgebracht wird, so gleitet sie uns gleichsam aus ple_215.006 der Hand und weicht vor unseren Augen ins Nebelhafte zurück. Auch ple_215.007 die Wissenschaft hat vergeblich versucht, durch psychologische Analyse ple_215.008 dem Phänomen auf den Grund zu kommen; sie ist bisher noch nicht zu ple_215.009 einer einheitlichen Auffassung gelangt. Die Erklärungen, welche die Ästhetik ple_215.010 im Laufe ihrer Entwicklung vom Wesen des Komischen aufgestellt hat, ple_215.011 bieten ein buntes, verworrenes Bild; eine Auffassung wird von einer anderen ple_215.012 bekämpft und verdrängt, die frühere gelegentlich von einem späteren ple_215.013 Denker wieder aufgenommen; nicht selten, zumal in der neuesten Zeit, ple_215.014 treten uns auch Versuche entgegen, Abweichendes zu vereinigen oder zu ple_215.015 verschmelzen. ple_215.016 Lehrreich ist zunächst ein kurzer Überblick: selbstverständlich kann es sich nur ple_215.017 um die geschichtlich wichtigsten oder sachlich bedeutendsten Erklärungsversuche handeln. ple_215.018 Auch hier steht Aristoteles an der Spitze. Seine oft angeführte Definition des ple_215.019 Lächerlichen lautet: es sei „eine schmerzlose und unschädliche Unzulänglichkeit und ple_215.020 Häßlichkeit“. (τὸ γελοῖόν ἐστιν ἁμάρτημα τι καὶ αἶσχος ἀνώδυνον καὶ οὐ φθαρτικόν. Poetik Kap. 5.) ple_215.021 Nicht länger noch eingehender ist die Definition Lessings (Dramaturgie Stück 28). ple_215.022 „Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich.“ ple_215.023 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (Werke Bd. 18 S. 202 f.): „Wenn nun der Verstand ple_215.024 eine solche Reihe von Verhältnissen auf die leichteste, kürzeste Weise während der dunkeln ple_215.025 Perspektive einer anderen wahren zugleich zu überschauen bekommt: könnte man dann ple_215.026 nicht den Witz, als eine so vielfach und so leicht spielende Tätigkeit, den angeschaueten ple_215.027 oder ästhetischen Verstand nennen, wie das Erhabene die angeschauete Vernunftidee und ple_215.028 das Komische den angeschaueten Unverstand?“ ple_215.029 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung § 13: „Das Lachen entsteht ple_215.030 jedesmal aus nichts anderem als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen ple_215.031 einem Begriff und dem realen Objekt, das durch ihn in irgend einer Beziehung gedacht ple_215.032 worden war, und es ist selbst eben nur der Ausdruck dieser Inkongruenz. — Je richtiger ple_215.033 nun einerseits die Subsumtion solcher Wirklichkeiten unter den Begriff ist, und je größer ple_215.034 und greller andrerseits ihre Unangemessenheit zu ihm, desto stärker ist die aus diesem ple_215.035 Gegensatz entspringende Wirkung des Lächerlichen.“ ple_215.036 Unter den neueren Psychologen ist zuerst Fechner dem Problem des Komischen ple_215.037 näher getreten. (Vorschule der Ästhetik I S. 221 ff.) Er führt „die Fälle, welche den ple_215.038 Charakter der Ergötzlichkeit, Lustigkeit, Lächerlichkeit tragen“, auf das „Prinzip der einheitlichen ple_215.039 Verknüpfung des Mannigfaltigen“ zurück. Insbesondere „erwecken uns Vergleiche ple_215.040 wie Wortspiele um so größeres Gefallen und finden wir sie um so leichter lustig und ple_215.041 selbst lächerlich, je treffender, leichter faßlich die einheitliche Verknüpfung einerseits, je ple_215.042 größer die Verschiedenheit oder der anscheinende Widerspruch, der dadurch vermittelt ple_215.043 wird, andrerseits, je ungeläufiger, unerwarteter, überraschender, fernerliegend die Weise ple_215.044 der Verknüpfung drittens ist.“ ple_215.045 Etwas abweichend Wundt (Grundzüge der physiologischen Psychologie, 4. Aufl., ple_215.046 Bd. 2): „Beim Komischen stehen die einzelnen Vorstellungen, welche ein Ganzes der Anschauung ple_215.047 oder des Gedankens bilden, untereinander oder mit der Art ihrer Zusammenfassung ple_215.048 teils in Widerspruch, teils stimmen sie zusammen. So entsteht ein Wechsel der

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/229>, abgerufen am 21.11.2024.