Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_009.001 ple_009.009 ple_009.020 ple_009.037 ple_009.001 ple_009.009 ple_009.020 ple_009.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0023" n="9"/><lb n="ple_009.001"/> Weise erfaßt. Ihm war die Dichtung nicht mehr, wie seinen rationalistisch <lb n="ple_009.002"/> beeinflußten Vorgängern, eine Lehrerin der Sittlichkeit: ihre Aufgabe war <lb n="ple_009.003"/> es, wie die Schönheit selber, eine Verkörperung jener inneren Harmonie <lb n="ple_009.004"/> zu sein, auf der die höchste Sittlichkeit beruht, zugleich aber auch die <lb n="ple_009.005"/> Kämpfe und Mühen darstellend zu verherrlichen, durch die sie errungen <lb n="ple_009.006"/> wird. So wird die Poesie bei ihm Wegweiserin und Erzieherin zum höchsten <lb n="ple_009.007"/> Ziel des Einzelnen wie der Menschheit. Der Gedanke der <hi rendition="#g">ästhetischen <lb n="ple_009.008"/> Erziehung</hi> ist der Lebensnerv seiner Welt- und Kunstbetrachtung.</p> <p><lb n="ple_009.009"/> Es war die erhabenste Bestimmung, die der Poesie vorgezeichnet <lb n="ple_009.010"/> werden kann. Niemals vorher, auch im Altertum nicht, war die Kunst <lb n="ple_009.011"/> als Lebensmacht so hochgestellt und verehrt worden. Aber diese Bestimmung, <lb n="ple_009.012"/> das läßt sich nicht verkennen, war nicht sowohl aus einer unbefangenen <lb n="ple_009.013"/> Betrachtung ihres Wesens als aus einer allgemeinen philosophischen <lb n="ple_009.014"/> Weltanschauung abgeleitet. Es war eine „Ästhetik von oben“, wie <lb n="ple_009.015"/> sie G. Th. Fechner treffend genannt hat, durch und durch <hi rendition="#g">deduktiv,</hi> aus <lb n="ple_009.016"/> Ideen geschaffen, und zugleich durch und durch <hi rendition="#g">normativ</hi> gedacht. Die <lb n="ple_009.017"/> Poetik zeichnet dem Dichter vor, wie er die hohe Anfgabe lösen kann, <lb n="ple_009.018"/> die Kunst zum mittelbaren oder unmittelbaren Ausdruck jener erhabenen <lb n="ple_009.019"/> Weltanschauung zu machen.</p> <p><lb n="ple_009.020"/> Der einseitige Charakter der neuen Poetik wurde noch verstärkt durch <lb n="ple_009.021"/> ihr Verhältnis zum Griechentum, das schon oben berührt worden ist. <lb n="ple_009.022"/> Nicht nur, daß die hellenische Dichtung als vollkommene Kunst und <lb n="ple_009.023"/> absolut vorbildlich gefaßt wurde, es war auch eine ganz bestimmte <lb n="ple_009.024"/> Färbung, in der sie unseren Klassikern erschien. Die Art, wie Winckelmann <lb n="ple_009.025"/> die griechischen Skulpturen gesehen und verstanden hatte, übertrugen <lb n="ple_009.026"/> sie unmittelbar auf die Dichtung. Die vielen realistischen, ja <lb n="ple_009.027"/> naturalistischen Elemente des griechischen Dramas, die Darstellungen furchtbarer, <lb n="ple_009.028"/> ja bis zum Extrem gesteigerter Leidenschaften und Leiden wurden <lb n="ple_009.029"/> übersehen, oder doch nicht als solche verstanden: auch in den Dichtungen, <lb n="ple_009.030"/> selbst in den dramatischen, wollte man die harmonische Ruhe des <lb n="ple_009.031"/> Idealstils als entscheidenden Charakterzug erkennen. So entstand auch hier <lb n="ple_009.032"/> das Ideal einer Formenkunst voll „stiller Größe und edler Einfalt“, die der <lb n="ple_009.033"/> Ausdruck einer harmonischen Weltanschauung sein sollte. Nur das Erhabene <lb n="ple_009.034"/> und das Schöne hatte in dieser Kunst Heimatrecht, das Charakteristische <lb n="ple_009.035"/> als solches nicht; es wurde zum Typischen erweitert, wie die Wirklichkeit <lb n="ple_009.036"/> überhaupt nur erhöht und veredelt zur Darstellung kommen sollte.</p> <p><lb n="ple_009.037"/> Im Zusammenhang hiermit wird denn auch die Methode verständlich, <lb n="ple_009.038"/> nach der unsere klassischen Dichter ihre eigenen sowohl wie die Werke <lb n="ple_009.039"/> anderer beurteilten. Lessing wie Schiller und selbst Goethe suchen das <lb n="ple_009.040"/> Wesen der Tragödie, des Epos u. s. w. zu bestimmen, und die Definition <lb n="ple_009.041"/> wird ihnen zum Maßstabe: der Wert einer Dichtung erscheint abhängig <lb n="ple_009.042"/> davon, daß sie den Gattungscharakter bewahrt. „In keiner Art menschlicher <lb n="ple_009.043"/> Tätigkeit ist es möglich, das Höchste zu leisten als nur innerhalb </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [9/0023]
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Weise erfaßt. Ihm war die Dichtung nicht mehr, wie seinen rationalistisch ple_009.002
beeinflußten Vorgängern, eine Lehrerin der Sittlichkeit: ihre Aufgabe war ple_009.003
es, wie die Schönheit selber, eine Verkörperung jener inneren Harmonie ple_009.004
zu sein, auf der die höchste Sittlichkeit beruht, zugleich aber auch die ple_009.005
Kämpfe und Mühen darstellend zu verherrlichen, durch die sie errungen ple_009.006
wird. So wird die Poesie bei ihm Wegweiserin und Erzieherin zum höchsten ple_009.007
Ziel des Einzelnen wie der Menschheit. Der Gedanke der ästhetischen ple_009.008
Erziehung ist der Lebensnerv seiner Welt- und Kunstbetrachtung.
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Es war die erhabenste Bestimmung, die der Poesie vorgezeichnet ple_009.010
werden kann. Niemals vorher, auch im Altertum nicht, war die Kunst ple_009.011
als Lebensmacht so hochgestellt und verehrt worden. Aber diese Bestimmung, ple_009.012
das läßt sich nicht verkennen, war nicht sowohl aus einer unbefangenen ple_009.013
Betrachtung ihres Wesens als aus einer allgemeinen philosophischen ple_009.014
Weltanschauung abgeleitet. Es war eine „Ästhetik von oben“, wie ple_009.015
sie G. Th. Fechner treffend genannt hat, durch und durch deduktiv, aus ple_009.016
Ideen geschaffen, und zugleich durch und durch normativ gedacht. Die ple_009.017
Poetik zeichnet dem Dichter vor, wie er die hohe Anfgabe lösen kann, ple_009.018
die Kunst zum mittelbaren oder unmittelbaren Ausdruck jener erhabenen ple_009.019
Weltanschauung zu machen.
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Der einseitige Charakter der neuen Poetik wurde noch verstärkt durch ple_009.021
ihr Verhältnis zum Griechentum, das schon oben berührt worden ist. ple_009.022
Nicht nur, daß die hellenische Dichtung als vollkommene Kunst und ple_009.023
absolut vorbildlich gefaßt wurde, es war auch eine ganz bestimmte ple_009.024
Färbung, in der sie unseren Klassikern erschien. Die Art, wie Winckelmann ple_009.025
die griechischen Skulpturen gesehen und verstanden hatte, übertrugen ple_009.026
sie unmittelbar auf die Dichtung. Die vielen realistischen, ja ple_009.027
naturalistischen Elemente des griechischen Dramas, die Darstellungen furchtbarer, ple_009.028
ja bis zum Extrem gesteigerter Leidenschaften und Leiden wurden ple_009.029
übersehen, oder doch nicht als solche verstanden: auch in den Dichtungen, ple_009.030
selbst in den dramatischen, wollte man die harmonische Ruhe des ple_009.031
Idealstils als entscheidenden Charakterzug erkennen. So entstand auch hier ple_009.032
das Ideal einer Formenkunst voll „stiller Größe und edler Einfalt“, die der ple_009.033
Ausdruck einer harmonischen Weltanschauung sein sollte. Nur das Erhabene ple_009.034
und das Schöne hatte in dieser Kunst Heimatrecht, das Charakteristische ple_009.035
als solches nicht; es wurde zum Typischen erweitert, wie die Wirklichkeit ple_009.036
überhaupt nur erhöht und veredelt zur Darstellung kommen sollte.
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Im Zusammenhang hiermit wird denn auch die Methode verständlich, ple_009.038
nach der unsere klassischen Dichter ihre eigenen sowohl wie die Werke ple_009.039
anderer beurteilten. Lessing wie Schiller und selbst Goethe suchen das ple_009.040
Wesen der Tragödie, des Epos u. s. w. zu bestimmen, und die Definition ple_009.041
wird ihnen zum Maßstabe: der Wert einer Dichtung erscheint abhängig ple_009.042
davon, daß sie den Gattungscharakter bewahrt. „In keiner Art menschlicher ple_009.043
Tätigkeit ist es möglich, das Höchste zu leisten als nur innerhalb
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