Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_219.001 ple_219.018 ple_219.021 ple_219.037 1) ple_219.041
Wie das unverhüllt Geschlechtliche im Munde naiver Völker verwertet und gewertet ple_219.042 wird, davon geben uns die vor kurzem erschienenen Sammlungen südslavischer ple_219.043 Erzählungen von S. Krauß ein mehr anschauliches als anmutiges Bild. ple_219.001 ple_219.018 ple_219.021 ple_219.037 1) ple_219.041
Wie das unverhüllt Geschlechtliche im Munde naiver Völker verwertet und gewertet ple_219.042 wird, davon geben uns die vor kurzem erschienenen Sammlungen südslavischer ple_219.043 Erzählungen von S. Krauß ein mehr anschauliches als anmutiges Bild. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0233" n="219"/><lb n="ple_219.001"/> Dinge belustigt und erheitert als hoch kultivierte, Kinder durch andere <lb n="ple_219.002"/> als Erwachsene, ein Publikum aus den unteren Volksklassen durch andere <lb n="ple_219.003"/> als die oberen Zehntausend. Daher werden wir nur dann hoffen dürfen, <lb n="ple_219.004"/> zu einem Verständnis für das Wesen der Komik zu gelangen, wenn wir <lb n="ple_219.005"/> diese Verschiedenheit von vornherein mit in Rücksicht ziehen. Denn deutlicher <lb n="ple_219.006"/> als viele andere Erscheinungen auf dem Gebiete der Dichtkunst zeigt <lb n="ple_219.007"/> sich das Komische als ein Entwicklungsphänomen, und die höheren und <lb n="ple_219.008"/> feineren komischen Wirkungen sind nur als Produkte eines längeren <lb n="ple_219.009"/> geistigen Fortschritts zu betrachten. Man muß mithin das Lächerliche <lb n="ple_219.010"/> zunächst in seinen primitiven Formen zu erfassen suchen; man muß mit <lb n="ple_219.011"/> der Frage beginnen, was die einfachsten und natürlichsten Menschen als <lb n="ple_219.012"/> lächerlich empfinden, um dann zu den höheren und komplizierteren <lb n="ple_219.013"/> Formen der Komik aufzusteigen. Dabei dürfen wir, einer oft beobachteten <lb n="ple_219.014"/> Übereinstimmung folgend, die Empfindungsweise primitiver Völker und <lb n="ple_219.015"/> Menschen derjenigen gleichsetzen, die wir noch heute an Kindern und <lb n="ple_219.016"/> ungebildeten Leuten beobachten, und die Erfahrung über die einen durch <lb n="ple_219.017"/> die Kenntnis der anderen ergänzen. —</p> <p><lb n="ple_219.018"/> Schon auf dieser ursprünglichen Stufe zeigt sich nun, daß die komische <lb n="ple_219.019"/> Wirkung durch mehrfache, von Grund aus verschiedene Eindrücke hervorgerufen <lb n="ple_219.020"/> wird.</p> <p><lb n="ple_219.021"/> Es gibt gewisse Vorstellungen und Gegenstände, die auf ein naives <lb n="ple_219.022"/> Publikum immer belustigend wirken, offenbar nur darum, weil sich an sie <lb n="ple_219.023"/> ein Überschuß von Lustgefühl knüpft. Dies sind in erster Reihe sexuelle <lb n="ple_219.024"/> Vorgänge und Vorstellungen, und zwar in groben und sinnlichen Erscheinungsformen. <lb n="ple_219.025"/> Wenn in unserem Norden und in unserer Zeit die unverhüllte <lb n="ple_219.026"/> Darstellung solcher Dinge nicht nur polizeilich verboten ist, sondern in der <lb n="ple_219.027"/> Tat das Schamgefühl auch vieler ungebildeten Menschen verletzt, so zeigt <lb n="ple_219.028"/> der naivere Orient, etwa in den türkischen Schattenspielen, über die <hi rendition="#g">Reich</hi> <lb n="ple_219.029"/> a. a. O. eingehend berichtet, noch heute die ursprüngliche Empfindungsweise.<note xml:id="ple_219_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_219.041"/> Wie das unverhüllt Geschlechtliche im Munde naiver Völker verwertet und gewertet <lb n="ple_219.042"/> wird, davon geben uns die vor kurzem erschienenen Sammlungen südslavischer <lb n="ple_219.043"/> Erzählungen von S. <hi rendition="#g">Krauß</hi> ein mehr anschauliches als anmutiges Bild.</note> <lb n="ple_219.030"/> Aber auch in der Blütezeit hellenischer Kultur ist der unzweideutig <lb n="ple_219.031"/> sexuelle Vorgang und das, was mit ihm in unmittelbarem Zusammenhang <lb n="ple_219.032"/> steht, — man braucht nur an Aristophanes' Lysistrata oder die Eingangsszene <lb n="ple_219.033"/> der Ritter zu erinnern, — offenbar ein Hauptmittel, um das Wohlgefühl <lb n="ple_219.034"/> und die Heiterkeit des Publikums hervorzurufen, wie denn die <lb n="ple_219.035"/> Komödie des größten attischen Lustspieldichters den Charakter des Phallusspiels <lb n="ple_219.036"/> nirgends verleugnet.</p> <p><lb n="ple_219.037"/> Ein Gegenstück zu der Zote in diesem gröbsten Sinne bildet die Unfläterei, <lb n="ple_219.038"/> die Darstellung oder doch Benutzung des Niedrigen und Ekelhaften, <lb n="ple_219.039"/> die, um einen Ausdruck Tiecks zu gebrauchen, „an der tierischen <lb n="ple_219.040"/> Natur des Menschen ergötzt“. Wie weit hierin die ältere attische Komödie </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [219/0233]
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Dinge belustigt und erheitert als hoch kultivierte, Kinder durch andere ple_219.002
als Erwachsene, ein Publikum aus den unteren Volksklassen durch andere ple_219.003
als die oberen Zehntausend. Daher werden wir nur dann hoffen dürfen, ple_219.004
zu einem Verständnis für das Wesen der Komik zu gelangen, wenn wir ple_219.005
diese Verschiedenheit von vornherein mit in Rücksicht ziehen. Denn deutlicher ple_219.006
als viele andere Erscheinungen auf dem Gebiete der Dichtkunst zeigt ple_219.007
sich das Komische als ein Entwicklungsphänomen, und die höheren und ple_219.008
feineren komischen Wirkungen sind nur als Produkte eines längeren ple_219.009
geistigen Fortschritts zu betrachten. Man muß mithin das Lächerliche ple_219.010
zunächst in seinen primitiven Formen zu erfassen suchen; man muß mit ple_219.011
der Frage beginnen, was die einfachsten und natürlichsten Menschen als ple_219.012
lächerlich empfinden, um dann zu den höheren und komplizierteren ple_219.013
Formen der Komik aufzusteigen. Dabei dürfen wir, einer oft beobachteten ple_219.014
Übereinstimmung folgend, die Empfindungsweise primitiver Völker und ple_219.015
Menschen derjenigen gleichsetzen, die wir noch heute an Kindern und ple_219.016
ungebildeten Leuten beobachten, und die Erfahrung über die einen durch ple_219.017
die Kenntnis der anderen ergänzen. —
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Schon auf dieser ursprünglichen Stufe zeigt sich nun, daß die komische ple_219.019
Wirkung durch mehrfache, von Grund aus verschiedene Eindrücke hervorgerufen ple_219.020
wird.
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Es gibt gewisse Vorstellungen und Gegenstände, die auf ein naives ple_219.022
Publikum immer belustigend wirken, offenbar nur darum, weil sich an sie ple_219.023
ein Überschuß von Lustgefühl knüpft. Dies sind in erster Reihe sexuelle ple_219.024
Vorgänge und Vorstellungen, und zwar in groben und sinnlichen Erscheinungsformen. ple_219.025
Wenn in unserem Norden und in unserer Zeit die unverhüllte ple_219.026
Darstellung solcher Dinge nicht nur polizeilich verboten ist, sondern in der ple_219.027
Tat das Schamgefühl auch vieler ungebildeten Menschen verletzt, so zeigt ple_219.028
der naivere Orient, etwa in den türkischen Schattenspielen, über die Reich ple_219.029
a. a. O. eingehend berichtet, noch heute die ursprüngliche Empfindungsweise. 1) ple_219.030
Aber auch in der Blütezeit hellenischer Kultur ist der unzweideutig ple_219.031
sexuelle Vorgang und das, was mit ihm in unmittelbarem Zusammenhang ple_219.032
steht, — man braucht nur an Aristophanes' Lysistrata oder die Eingangsszene ple_219.033
der Ritter zu erinnern, — offenbar ein Hauptmittel, um das Wohlgefühl ple_219.034
und die Heiterkeit des Publikums hervorzurufen, wie denn die ple_219.035
Komödie des größten attischen Lustspieldichters den Charakter des Phallusspiels ple_219.036
nirgends verleugnet.
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Ein Gegenstück zu der Zote in diesem gröbsten Sinne bildet die Unfläterei, ple_219.038
die Darstellung oder doch Benutzung des Niedrigen und Ekelhaften, ple_219.039
die, um einen Ausdruck Tiecks zu gebrauchen, „an der tierischen ple_219.040
Natur des Menschen ergötzt“. Wie weit hierin die ältere attische Komödie
1) ple_219.041
Wie das unverhüllt Geschlechtliche im Munde naiver Völker verwertet und gewertet ple_219.042
wird, davon geben uns die vor kurzem erschienenen Sammlungen südslavischer ple_219.043
Erzählungen von S. Krauß ein mehr anschauliches als anmutiges Bild.
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