Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_221.001 ple_221.008 ple_221.027 ple_221.039 ple_221.001 ple_221.008 ple_221.027 ple_221.039 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0235" n="221"/><lb n="ple_221.001"/> gibt ein Beispiel einer also verschleierten und verfeinerten sexuellen Spitze. <lb n="ple_221.002"/> Von hier aus ist denn nur noch ein Schritt, bis das Spiel mit den Worten den <lb n="ple_221.003"/> ursprünglichen Boden verläßt und sich auf andere Gebiete, zum Beispiel das <lb n="ple_221.004"/> satirische, fortpflanzt oder auch als reines Formenspiel gleichsam in der Luft <lb n="ple_221.005"/> sein Wesen treibt. Manche Dialoge Shakespearescher Komödien machen das <lb n="ple_221.006"/> anschaulich. Und wie der junge Goethe solche Wortspiele schätzte, davon legt <lb n="ple_221.007"/> die bekannte Stelle im elften Buche von Dichtung und Wahrheit Zeugnis ab.</p> <p><lb n="ple_221.008"/> Ein Schritt in anderer Richtung führt vom Wort- zum Gedankenwitz <lb n="ple_221.009"/> im tieferen Sinn. Der Klang als verbindende Einheit wird ersetzt <lb n="ple_221.010"/> durch einen vermittelnden Gedanken, der den Doppelsinn verbindet. <lb n="ple_221.011"/> Aus der gegebenen, scheinbar einfachen Vorstellung springt plötzlich eine <lb n="ple_221.012"/> andere, völlig verschiedene hervor, während uns doch jener Zusammenhang <lb n="ple_221.013"/> des Entgegengesetzten im Bewußtsein bleibt. Oder umgekehrt — <lb n="ple_221.014"/> zwischen widersprechenden Vorstellungen tritt eine Verwandtschaft, eine <lb n="ple_221.015"/> Gleichheit hervor, die sich zumeist nur auf einen Teil, oft nur einen untergeordneten <lb n="ple_221.016"/> erstreckt. In beiden Fällen entsteht eine analoge Wirkung wie <lb n="ple_221.017"/> im Wortwitz; der Widerstreit zwischen Gegensatz und Gleichheit wird <lb n="ple_221.018"/> zum lustvollen Spiele, das wir als komisch empfinden. Schon die oben <lb n="ple_221.019"/> angedeutete Schlußwendung in Uhlands Graf Eberstein ist mehr ein Gedanken- <lb n="ple_221.020"/> als ein Wortspiel, denn der Witz würde bleiben, auch wenn das <lb n="ple_221.021"/> gleiche Wort („Schlößlein“) verändert und etwa durch das farblose „Du“ <lb n="ple_221.022"/> ersetzt wäre; und Jean Paul macht mit Recht darauf aufmerksam, daß, was <lb n="ple_221.023"/> in <hi rendition="#g">einer</hi> Sprache als Wortspiel erscheint, unter Umständen in einer anderen <lb n="ple_221.024"/> als Gedankenwitz auftreten kann. Den Übergang zwischen Wort- und Gedankenwitz <lb n="ple_221.025"/> veranschaulicht recht drastisch das Gespräch zwischen Just und <lb n="ple_221.026"/> Franziska in Minna von Barnhelm III 2. —</p> <p><lb n="ple_221.027"/> Was ich soeben zu entwerfen versucht habe, ist eine Art entwicklungsgeschichtlicher <lb n="ple_221.028"/> Erklärung. Sie führt vom animalisch sinnlichen Gebiet <lb n="ple_221.029"/> in das des freien Formenspiels. Zu der bloßen Lust an einem bestimmten <lb n="ple_221.030"/> Vorstellungskreis tritt zunächst als steigerndes Element die Überraschung, <lb n="ple_221.031"/> und hieraus erwachsend der Gegensatz zweier Bedeutungen oder <lb n="ple_221.032"/> Beziehungen. Dieser Gegensatz in seinem Wettstreit mit der verknüpfenden <lb n="ple_221.033"/> Einheit des Wortes oder der Vorstellung wird schließlich an sich lustvoll <lb n="ple_221.034"/> und gewinnt damit einen selbständigen Wert ästhetischer Natur. Ist <lb n="ple_221.035"/> diese Vermutung richtig, so ist damit <hi rendition="#g">eine</hi> Gattung der Komik in ihrer <lb n="ple_221.036"/> Wurzel bloßgelegt und in ihrem Wesen erklärt. Aber es gibt mehrere <lb n="ple_221.037"/> solcher Gattungen, und ihre Wurzeln sind verschieden. Versuchen wir eine <lb n="ple_221.038"/> zweite in gleicher Weise zu analysieren.</p> <p><lb n="ple_221.039"/> Auf derselben primitiven Stufe, wo die sinnlichen Vorstellungen als <lb n="ple_221.040"/> solche erheiternd wirken und eine embryonale Form des Komischen bilden, <lb n="ple_221.041"/> finden wir, daß Eindrücke ganz entgegengesetzter Art eine gleiche Wirkung <lb n="ple_221.042"/> auszuüben: körperliche Unförmlichkeit, auffallende Häßlichkeit oder Ungeschicklichkeit, <lb n="ple_221.043"/> die man bei anderen wahrnimmt, erregen Lachen, nicht minder </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [221/0235]
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gibt ein Beispiel einer also verschleierten und verfeinerten sexuellen Spitze. ple_221.002
Von hier aus ist denn nur noch ein Schritt, bis das Spiel mit den Worten den ple_221.003
ursprünglichen Boden verläßt und sich auf andere Gebiete, zum Beispiel das ple_221.004
satirische, fortpflanzt oder auch als reines Formenspiel gleichsam in der Luft ple_221.005
sein Wesen treibt. Manche Dialoge Shakespearescher Komödien machen das ple_221.006
anschaulich. Und wie der junge Goethe solche Wortspiele schätzte, davon legt ple_221.007
die bekannte Stelle im elften Buche von Dichtung und Wahrheit Zeugnis ab.
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Ein Schritt in anderer Richtung führt vom Wort- zum Gedankenwitz ple_221.009
im tieferen Sinn. Der Klang als verbindende Einheit wird ersetzt ple_221.010
durch einen vermittelnden Gedanken, der den Doppelsinn verbindet. ple_221.011
Aus der gegebenen, scheinbar einfachen Vorstellung springt plötzlich eine ple_221.012
andere, völlig verschiedene hervor, während uns doch jener Zusammenhang ple_221.013
des Entgegengesetzten im Bewußtsein bleibt. Oder umgekehrt — ple_221.014
zwischen widersprechenden Vorstellungen tritt eine Verwandtschaft, eine ple_221.015
Gleichheit hervor, die sich zumeist nur auf einen Teil, oft nur einen untergeordneten ple_221.016
erstreckt. In beiden Fällen entsteht eine analoge Wirkung wie ple_221.017
im Wortwitz; der Widerstreit zwischen Gegensatz und Gleichheit wird ple_221.018
zum lustvollen Spiele, das wir als komisch empfinden. Schon die oben ple_221.019
angedeutete Schlußwendung in Uhlands Graf Eberstein ist mehr ein Gedanken- ple_221.020
als ein Wortspiel, denn der Witz würde bleiben, auch wenn das ple_221.021
gleiche Wort („Schlößlein“) verändert und etwa durch das farblose „Du“ ple_221.022
ersetzt wäre; und Jean Paul macht mit Recht darauf aufmerksam, daß, was ple_221.023
in einer Sprache als Wortspiel erscheint, unter Umständen in einer anderen ple_221.024
als Gedankenwitz auftreten kann. Den Übergang zwischen Wort- und Gedankenwitz ple_221.025
veranschaulicht recht drastisch das Gespräch zwischen Just und ple_221.026
Franziska in Minna von Barnhelm III 2. —
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Was ich soeben zu entwerfen versucht habe, ist eine Art entwicklungsgeschichtlicher ple_221.028
Erklärung. Sie führt vom animalisch sinnlichen Gebiet ple_221.029
in das des freien Formenspiels. Zu der bloßen Lust an einem bestimmten ple_221.030
Vorstellungskreis tritt zunächst als steigerndes Element die Überraschung, ple_221.031
und hieraus erwachsend der Gegensatz zweier Bedeutungen oder ple_221.032
Beziehungen. Dieser Gegensatz in seinem Wettstreit mit der verknüpfenden ple_221.033
Einheit des Wortes oder der Vorstellung wird schließlich an sich lustvoll ple_221.034
und gewinnt damit einen selbständigen Wert ästhetischer Natur. Ist ple_221.035
diese Vermutung richtig, so ist damit eine Gattung der Komik in ihrer ple_221.036
Wurzel bloßgelegt und in ihrem Wesen erklärt. Aber es gibt mehrere ple_221.037
solcher Gattungen, und ihre Wurzeln sind verschieden. Versuchen wir eine ple_221.038
zweite in gleicher Weise zu analysieren.
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Auf derselben primitiven Stufe, wo die sinnlichen Vorstellungen als ple_221.040
solche erheiternd wirken und eine embryonale Form des Komischen bilden, ple_221.041
finden wir, daß Eindrücke ganz entgegengesetzter Art eine gleiche Wirkung ple_221.042
auszuüben: körperliche Unförmlichkeit, auffallende Häßlichkeit oder Ungeschicklichkeit, ple_221.043
die man bei anderen wahrnimmt, erregen Lachen, nicht minder
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