Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_223.001 ple_223.016 ple_223.035 1) ple_223.039
Hier ist es, wo wir auf die Theorie von Kant und Lipps (S. 216) zurückgreifen ple_223.040 müssen. Diese Theorie umfaßt zwar nicht, wie beide Denker angenommen haben, das ple_223.041 ganze Gebiet des Komischen, wohl aber gibt sie für eine Reihe von Erscheinungen eine ple_223.042 zureichende Erklärung; für eine Anzahl anderer weist sie wenigstens einen wesentlichen ple_223.043 Faktor der Wirkung auf. ple_223.001 ple_223.016 ple_223.035 1) ple_223.039
Hier ist es, wo wir auf die Theorie von Kant und Lipps (S. 216) zurückgreifen ple_223.040 müssen. Diese Theorie umfaßt zwar nicht, wie beide Denker angenommen haben, das ple_223.041 ganze Gebiet des Komischen, wohl aber gibt sie für eine Reihe von Erscheinungen eine ple_223.042 zureichende Erklärung; für eine Anzahl anderer weist sie wenigstens einen wesentlichen ple_223.043 Faktor der Wirkung auf. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0237" n="223"/><lb n="ple_223.001"/> gegenüber regt sich die Schadenfreude, die mehr oder weniger unbewußte <lb n="ple_223.002"/> Empfindung der eigenen Überlegenheit. Ähnlich ist der seelische Vorgang <lb n="ple_223.003"/> beim Anblick eines Trunkenen, zumal auf der Bühne, wenn der Zustand <lb n="ple_223.004"/> nicht zu plump und abstoßend dargestellt wird. Der feucht-fröhliche <lb n="ple_223.005"/> Übermut etwa, wie er die Trinkszenen in Shakespeares Heinrich IV. beherrscht, <lb n="ple_223.006"/> erweckt das Behagen des Zuschauers, und die selige Verklärung, <lb n="ple_223.007"/> die auf dem Gesicht eines Bezechten erscheint, erregt nicht weniger Heiterkeit <lb n="ple_223.008"/> als andrerseits seine täppische Unbeholfenheit; aber der psychologische <lb n="ple_223.009"/> Ursprung beider Empfindungen ist offenbar ganz verschieden. In diesem <lb n="ple_223.010"/> Falle, wie in dem der Prügelszene, beruht die komische Wirkung auf einer <lb n="ple_223.011"/> Verschmelzung aus sympathischen Lustgefühlen und schadenfroher Überlegenheit. <lb n="ple_223.012"/> Beide verstärken einander wechselseitig. Und dieser Umstand <lb n="ple_223.013"/> macht es erklärlich, daß gerade Prügelei und Trunkenheit auf der komischen <lb n="ple_223.014"/> Bühne ihrer heiteren Wirkung sicher sind, weshalb sie auch so unsäglich <lb n="ple_223.015"/> oft wiederkehren.</p> <p><lb n="ple_223.016"/> Es ist vielleicht nicht zu kühn vermutet, daß wir hier die Anfänge <lb n="ple_223.017"/> der <hi rendition="#g">Situationskomik</hi> vor uns haben, wie dort den Keim zum <hi rendition="#g">Wortspiel</hi> <lb n="ple_223.018"/> und zum <hi rendition="#g">Gedankenwitz.</hi> Ein wesentlicher Teil aller Situationskomik beruht <lb n="ple_223.019"/> darauf, daß eine der handelnden Personen in Verlegenheit kommt und <lb n="ple_223.020"/> unsere Schadenfreude wachruft. Dann aber muß sie sich, soll die erheiternde <lb n="ple_223.021"/> Wirkung andauern, entweder durch die Gunst des Glücks oder <lb n="ple_223.022"/> durch überlegene Geisteskraft wieder aus der Verlegenheit ziehen und dadurch <lb n="ple_223.023"/> jene sympathischen Lustgefühle erwecken, die der Anblick jeder <lb n="ple_223.024"/> Kraft wachruft. Auch hier wird die Wirkung durch Überraschung nicht <lb n="ple_223.025"/> erst hervorgebracht (wir können z. B. in einem Lustspiel wie Figaros Hochzeit <lb n="ple_223.026"/> Intrigue und Gegenplan vorher kennen, ohne daß die Wirkung geschädigt <lb n="ple_223.027"/> wird), wohl aber gesteigert (wie etwa in dem genannten Stück <lb n="ple_223.028"/> die überraschende Entdeckung der Eltern des Helden den Höhepunkt der <lb n="ple_223.029"/> Komik bildet). So zeigt auch die Situationskomik des hochentwickelten <lb n="ple_223.030"/> Lustspiels noch dieselben Faktoren, deren primitive Gestalt wir oben kennen <lb n="ple_223.031"/> gelernt haben. In der italienischen Maskenkomödie sowie in Goethes reizvoller <lb n="ple_223.032"/> Nachbildung „Scherz, List und Rache“ tritt das deutlich hervor; besonders <lb n="ple_223.033"/> aber sind es die Franzosen, die sich von Beaumarchais bis Sardou <lb n="ple_223.034"/> und weiter als die Meister dieser Art von Wirkungen erwiesen haben.</p> <p><lb n="ple_223.035"/> Es wäre nun freilich zu viel behauptet, daß alle Situationskomik restlos <lb n="ple_223.036"/> in diesem einfachen Schema aufginge. Kein Zweifel, daß in den verfeinerten <lb n="ple_223.037"/> Arten des Lustspiels noch andere Elemente hinzutreten, um eine <lb n="ple_223.038"/> gesteigerte und bedeutsamere Wirkung hervorzubringen.<note xml:id="ple_223_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_223.039"/> Hier ist es, wo wir auf die Theorie von Kant und Lipps (S. 216) zurückgreifen <lb n="ple_223.040"/> müssen. Diese Theorie umfaßt zwar nicht, wie beide Denker angenommen haben, das <lb n="ple_223.041"/> ganze Gebiet des Komischen, wohl aber gibt sie für eine Reihe von Erscheinungen eine <lb n="ple_223.042"/> zureichende Erklärung; für eine Anzahl anderer weist sie wenigstens einen wesentlichen <lb n="ple_223.043"/> Faktor der Wirkung auf.</note> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [223/0237]
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gegenüber regt sich die Schadenfreude, die mehr oder weniger unbewußte ple_223.002
Empfindung der eigenen Überlegenheit. Ähnlich ist der seelische Vorgang ple_223.003
beim Anblick eines Trunkenen, zumal auf der Bühne, wenn der Zustand ple_223.004
nicht zu plump und abstoßend dargestellt wird. Der feucht-fröhliche ple_223.005
Übermut etwa, wie er die Trinkszenen in Shakespeares Heinrich IV. beherrscht, ple_223.006
erweckt das Behagen des Zuschauers, und die selige Verklärung, ple_223.007
die auf dem Gesicht eines Bezechten erscheint, erregt nicht weniger Heiterkeit ple_223.008
als andrerseits seine täppische Unbeholfenheit; aber der psychologische ple_223.009
Ursprung beider Empfindungen ist offenbar ganz verschieden. In diesem ple_223.010
Falle, wie in dem der Prügelszene, beruht die komische Wirkung auf einer ple_223.011
Verschmelzung aus sympathischen Lustgefühlen und schadenfroher Überlegenheit. ple_223.012
Beide verstärken einander wechselseitig. Und dieser Umstand ple_223.013
macht es erklärlich, daß gerade Prügelei und Trunkenheit auf der komischen ple_223.014
Bühne ihrer heiteren Wirkung sicher sind, weshalb sie auch so unsäglich ple_223.015
oft wiederkehren.
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Es ist vielleicht nicht zu kühn vermutet, daß wir hier die Anfänge ple_223.017
der Situationskomik vor uns haben, wie dort den Keim zum Wortspiel ple_223.018
und zum Gedankenwitz. Ein wesentlicher Teil aller Situationskomik beruht ple_223.019
darauf, daß eine der handelnden Personen in Verlegenheit kommt und ple_223.020
unsere Schadenfreude wachruft. Dann aber muß sie sich, soll die erheiternde ple_223.021
Wirkung andauern, entweder durch die Gunst des Glücks oder ple_223.022
durch überlegene Geisteskraft wieder aus der Verlegenheit ziehen und dadurch ple_223.023
jene sympathischen Lustgefühle erwecken, die der Anblick jeder ple_223.024
Kraft wachruft. Auch hier wird die Wirkung durch Überraschung nicht ple_223.025
erst hervorgebracht (wir können z. B. in einem Lustspiel wie Figaros Hochzeit ple_223.026
Intrigue und Gegenplan vorher kennen, ohne daß die Wirkung geschädigt ple_223.027
wird), wohl aber gesteigert (wie etwa in dem genannten Stück ple_223.028
die überraschende Entdeckung der Eltern des Helden den Höhepunkt der ple_223.029
Komik bildet). So zeigt auch die Situationskomik des hochentwickelten ple_223.030
Lustspiels noch dieselben Faktoren, deren primitive Gestalt wir oben kennen ple_223.031
gelernt haben. In der italienischen Maskenkomödie sowie in Goethes reizvoller ple_223.032
Nachbildung „Scherz, List und Rache“ tritt das deutlich hervor; besonders ple_223.033
aber sind es die Franzosen, die sich von Beaumarchais bis Sardou ple_223.034
und weiter als die Meister dieser Art von Wirkungen erwiesen haben.
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Es wäre nun freilich zu viel behauptet, daß alle Situationskomik restlos ple_223.036
in diesem einfachen Schema aufginge. Kein Zweifel, daß in den verfeinerten ple_223.037
Arten des Lustspiels noch andere Elemente hinzutreten, um eine ple_223.038
gesteigerte und bedeutsamere Wirkung hervorzubringen. 1)
1) ple_223.039
Hier ist es, wo wir auf die Theorie von Kant und Lipps (S. 216) zurückgreifen ple_223.040
müssen. Diese Theorie umfaßt zwar nicht, wie beide Denker angenommen haben, das ple_223.041
ganze Gebiet des Komischen, wohl aber gibt sie für eine Reihe von Erscheinungen eine ple_223.042
zureichende Erklärung; für eine Anzahl anderer weist sie wenigstens einen wesentlichen ple_223.043
Faktor der Wirkung auf.
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