Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_224.001 ple_224.010 ple_224.018 ple_224.030 ple_224.001 ple_224.010 ple_224.018 ple_224.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0238" n="224"/> <p><lb n="ple_224.001"/> Das wichtigste dieser Elemente ist ein Wert- oder Größengegensatz. <lb n="ple_224.002"/> Etwas, das zunächst als bedeutend, groß, kraftvoll erscheint, löst sich in <lb n="ple_224.003"/> etwas Unbedeutendes, Kleines auf. Kant legt dabei den Ton auf den <lb n="ple_224.004"/> Gegensatz zwischen Erwartung und Erfüllung. „Das Lachen“, heißt es bei <lb n="ple_224.005"/> ihm, „ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten <lb n="ple_224.006"/> Erwartung in Nichts.“ In der Tat hat er damit eine bestimmte Art komischer <lb n="ple_224.007"/> Wirkung richtig erfaßt und beschrieben. Der Vers des Horaz <lb n="ple_224.008"/> „Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus“, gibt das Schema dieser Art <lb n="ple_224.009"/> von Komik.</p> <p><lb n="ple_224.010"/> Eine Volksmenge wartet zusammengedrängt und gespannt vor dem <lb n="ple_224.011"/> Dome auf das Erscheinen eines fürstlichen Brautpaars. Nach langem <lb n="ple_224.012"/> Harren öffnet die schwere Tür sich langsam und unter allgemeiner Spannung <lb n="ple_224.013"/> erscheint ein kleiner Groom, der einen Schoßhund hinausführt. Wer hat <lb n="ple_224.014"/> nicht gelegentlich einmal das Gelächter gehört, das in solchen Lagen sich <lb n="ple_224.015"/> zu erheben pflegt, die schlechten oder guten Witze, die aus der Menge <lb n="ple_224.016"/> ertönen? Man sollte meinen, die Enttäuschung ärgere: offenbar ist das <lb n="ple_224.017"/> Gegenteil der Fall, sie erheitert.</p> <p><lb n="ple_224.018"/> Der Löwenkampf im Don Quichote! Der wahnsinnige Ritter hat den <lb n="ple_224.019"/> Wärter gezwungen, den Käfig zu öffnen. Die Umstehenden sind voller <lb n="ple_224.020"/> Angst geflüchtet und erwarten von fern den tragischen Vorgang, der sich <lb n="ple_224.021"/> entwickeln muß. Don Quichote geht dem Löwen, „der wirklich von außerordentlicher <lb n="ple_224.022"/> Größe und furchtbar erregendem Aussehen war“, zu Fuß entgegen, <lb n="ple_224.023"/> um einen ritterlichen Kampf zu bestehen. Der nächste Moment <lb n="ple_224.024"/> scheint eine schreckliche Katastrophe bringen zu müssen. „Die Bestie <lb n="ple_224.025"/> steckte den Kopf aus dem Käfig hervor und sah sich nach allen Seiten <lb n="ple_224.026"/> mit glühenden Augen und Blicken um, ein Anblick, geeignet, selbst die <lb n="ple_224.027"/> leibhaftige Tollkühnheit in Schrecken zu setzen. Plötzlich aber, nachdem <lb n="ple_224.028"/> sie sich, wie gesagt, überall umgeschaut hat, kehrt sie dem Ritter ihr Hinterteil <lb n="ple_224.029"/> zu und geht gelangweilt wieder in den Käfig zurück.“</p> <p><lb n="ple_224.030"/> Auf dem gleichen Gegensatz beruht die komische Wirkung in Gedichten, <lb n="ple_224.031"/> die, scheinbar ernsten Charakters, statt der erwarteten Pointe plötzlich <lb n="ple_224.032"/> eine Banalität geben. Walter von der Vogelweide schildert in einem <lb n="ple_224.033"/> bekannten Lied, wie er in einer schönen Sommerlandschaft an einem kühlen <lb n="ple_224.034"/> Bronnen im Schatten einer Linde eingeschlafen war und den schönsten <lb n="ple_224.035"/> Traum seines Lebens träumte. Das Schreien einer Krähe erweckt ihn. <lb n="ple_224.036"/> Zornig und voll Kummer fährt er auf, die holde Phantasie ist verschwunden. <lb n="ple_224.037"/> Trost kann ihm nur eine wunderalte Wahrsagerin geben, die ihm den <lb n="ple_224.038"/> Traum deuten will. Und was weiß sie zu sagen? „Zwei und eins, die <lb n="ple_224.039"/> machen drei, dann noch sagt sie mir dabei, daß mein Daum ein Finger <lb n="ple_224.040"/> sei.“ — Auf einen ganz ähnlichen Effekt kommt der berühmte Schluß von <lb n="ple_224.041"/> Heines Seegespenst hinaus, wo der phantastische Träumer mit den Worten <lb n="ple_224.042"/> geweckt wird: „Doktor, sind Sie des Teufels?“ Und durchaus typisch ist <lb n="ple_224.043"/> das kleine Gedicht aus der „Heimkehr“: </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [224/0238]
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Das wichtigste dieser Elemente ist ein Wert- oder Größengegensatz. ple_224.002
Etwas, das zunächst als bedeutend, groß, kraftvoll erscheint, löst sich in ple_224.003
etwas Unbedeutendes, Kleines auf. Kant legt dabei den Ton auf den ple_224.004
Gegensatz zwischen Erwartung und Erfüllung. „Das Lachen“, heißt es bei ple_224.005
ihm, „ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten ple_224.006
Erwartung in Nichts.“ In der Tat hat er damit eine bestimmte Art komischer ple_224.007
Wirkung richtig erfaßt und beschrieben. Der Vers des Horaz ple_224.008
„Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus“, gibt das Schema dieser Art ple_224.009
von Komik.
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Eine Volksmenge wartet zusammengedrängt und gespannt vor dem ple_224.011
Dome auf das Erscheinen eines fürstlichen Brautpaars. Nach langem ple_224.012
Harren öffnet die schwere Tür sich langsam und unter allgemeiner Spannung ple_224.013
erscheint ein kleiner Groom, der einen Schoßhund hinausführt. Wer hat ple_224.014
nicht gelegentlich einmal das Gelächter gehört, das in solchen Lagen sich ple_224.015
zu erheben pflegt, die schlechten oder guten Witze, die aus der Menge ple_224.016
ertönen? Man sollte meinen, die Enttäuschung ärgere: offenbar ist das ple_224.017
Gegenteil der Fall, sie erheitert.
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Der Löwenkampf im Don Quichote! Der wahnsinnige Ritter hat den ple_224.019
Wärter gezwungen, den Käfig zu öffnen. Die Umstehenden sind voller ple_224.020
Angst geflüchtet und erwarten von fern den tragischen Vorgang, der sich ple_224.021
entwickeln muß. Don Quichote geht dem Löwen, „der wirklich von außerordentlicher ple_224.022
Größe und furchtbar erregendem Aussehen war“, zu Fuß entgegen, ple_224.023
um einen ritterlichen Kampf zu bestehen. Der nächste Moment ple_224.024
scheint eine schreckliche Katastrophe bringen zu müssen. „Die Bestie ple_224.025
steckte den Kopf aus dem Käfig hervor und sah sich nach allen Seiten ple_224.026
mit glühenden Augen und Blicken um, ein Anblick, geeignet, selbst die ple_224.027
leibhaftige Tollkühnheit in Schrecken zu setzen. Plötzlich aber, nachdem ple_224.028
sie sich, wie gesagt, überall umgeschaut hat, kehrt sie dem Ritter ihr Hinterteil ple_224.029
zu und geht gelangweilt wieder in den Käfig zurück.“
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Auf dem gleichen Gegensatz beruht die komische Wirkung in Gedichten, ple_224.031
die, scheinbar ernsten Charakters, statt der erwarteten Pointe plötzlich ple_224.032
eine Banalität geben. Walter von der Vogelweide schildert in einem ple_224.033
bekannten Lied, wie er in einer schönen Sommerlandschaft an einem kühlen ple_224.034
Bronnen im Schatten einer Linde eingeschlafen war und den schönsten ple_224.035
Traum seines Lebens träumte. Das Schreien einer Krähe erweckt ihn. ple_224.036
Zornig und voll Kummer fährt er auf, die holde Phantasie ist verschwunden. ple_224.037
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Traum deuten will. Und was weiß sie zu sagen? „Zwei und eins, die ple_224.039
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Heines Seegespenst hinaus, wo der phantastische Träumer mit den Worten ple_224.042
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das kleine Gedicht aus der „Heimkehr“:
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