Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_225.001 ple_225.009 1) ple_225.041
Daher hat Lipps ganz recht, wenn er (Komik und Humor S. 137) die Kantische ple_225.042 Definition erweitert und den Begriff der Spannung in den der psychischen Disposition ple_225.043 umdeutet. ple_225.001 ple_225.009 1) ple_225.041
Daher hat Lipps ganz recht, wenn er (Komik und Humor S. 137) die Kantische ple_225.042 Definition erweitert und den Begriff der Spannung in den der psychischen Disposition ple_225.043 umdeutet. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <pb facs="#f0239" n="225"/> <lb n="ple_225.001"/> <hi rendition="#aq"> <lg> <l>Die Jahre kommen und gehen,</l> <lb n="ple_225.002"/> <l>Geschlechter steigen ins Grab,</l> <lb n="ple_225.003"/> <l>Doch nimmer vergeht die Liebe,</l> <lb n="ple_225.004"/> <l>Die ich im Herzen hab'. </l> </lg> <lg> <lb n="ple_225.005"/> <l>Nur einmal noch möcht' ich dich sehen,</l> <lb n="ple_225.006"/> <l>Und sinken vor dir aufs Knie,</l> <lb n="ple_225.007"/> <l>Und sterbend zu dir sprechen:</l> <lb n="ple_225.008"/> <l>„Madam, ich liebe Sie!“</l> </lg> </hi> </p> <p><lb n="ple_225.009"/> Die bisher geschilderten komischen Wirkungen beruhen nun zwar <lb n="ple_225.010"/> auf dem <hi rendition="#g">überraschenden</hi> Gegensatz zwischen Erwartung und Erfüllung <lb n="ple_225.011"/> und entsprechen somit der Kantschen Definition. Dennoch ist dies nicht <lb n="ple_225.012"/> die notwendige Grundform, sondern nur <hi rendition="#g">eine,</hi> allerdings die wirksamste <lb n="ple_225.013"/> Gestalt, in welcher die hier in Rede stehende Gattung des Komischen auftreten <lb n="ple_225.014"/> kann. Schon das muß zu denken geben, daß auch hier, wie bei <lb n="ple_225.015"/> der Situationskomik, der Zuschauer vor der Bühne keineswegs immer überrascht <lb n="ple_225.016"/> zu werden braucht, um eine Wendung lächerlich zu finden. In <lb n="ple_225.017"/> Kleists Meisterlustspiel <hi rendition="#g">Der zerbrochene Krug</hi> sehen wir die Entdeckung <lb n="ple_225.018"/> des Sünders Adam lange vorher kommen, ehe die Personen auf der <lb n="ple_225.019"/> Bühne sie gemacht haben, und doch tut das der erheiternden Wirkung <lb n="ple_225.020"/> nicht den mindesten Eintrag. Wir werden vielmehr ganz allgemein sagen <lb n="ple_225.021"/> müssen: überall, wo ein Hohes und Bedeutungsvolles in ein Nichtiges und <lb n="ple_225.022"/> Kleines umschlägt oder sich als ein solches enthüllt, wirkt der Gegensatz <lb n="ple_225.023"/> komisch.<note xml:id="ple_225_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_225.041"/> Daher hat Lipps ganz recht, wenn er (Komik und Humor S. 137) die Kantische <lb n="ple_225.042"/> Definition erweitert und den Begriff der <hi rendition="#g">Spannung</hi> in den der <hi rendition="#g">psychischen Disposition</hi> <lb n="ple_225.043"/> umdeutet.</note> Die Überraschung erhöht freilich stets diese Wirkung, ist aber <lb n="ple_225.024"/> keineswegs unbedingt nötig, um sie hervorzurufen. Auf den Kontrast <lb n="ple_225.025"/> zwischen Hohem und Niedrigem ist fast die ganze Komik des Don Quichote <lb n="ple_225.026"/> gestellt. Alles was der törichte Held für groß und bedeutungsvoll hält, <lb n="ple_225.027"/> ist in Wahrheit nichtig und gewöhnlich, und der Dichter läßt uns von <lb n="ple_225.028"/> vornherein darüber nicht im Zweifel. Gleichwohl versagt ihm die komische <lb n="ple_225.029"/> Wirkung nicht. Man lese etwa das Kapitel (T. I, 31), wo Sancho Pansa <lb n="ple_225.030"/> über seine Botschaft an Dulcinea von Toboso berichtet: „Du kamst an,“ <lb n="ple_225.031"/> sagte Don Quichote, „womit beschäftigte sich denn die Königin der <lb n="ple_225.032"/> Schönheit? Ohne Zweifel fandest du sie, wie sie Perlen aufreihte oder <lb n="ple_225.033"/> für ihren gefangenen Ritter ein Sinnbild in Gold stickte?“ „So fand <lb n="ple_225.034"/> ich sie nicht,“ antwortete Sancho, „sondern sie worfelte gerade ein <lb n="ple_225.035"/> paar Scheffel Weizen auf der Tenne ihres Hauses.“ „Aber sage mir <lb n="ple_225.036"/> weiter, was machte sie mit meinem Brief, als du ihn übergabst? Küßte <lb n="ple_225.037"/> sie ihn? Drückte sie ihn an ihre Stirn? Gab sie sonst durch irgend <lb n="ple_225.038"/> eine Geberde zu erkennen, wie wert ihr der Brief war? Oder was tat <lb n="ple_225.039"/> sie?“ „Als ich ihr den Brief geben wollte,“ sagte Sancho, „stand sie eben <lb n="ple_225.040"/> im dicksten Staube, den ein Haufen geworfelten Weizens verursacht hatte. </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [225/0239]
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Die Jahre kommen und gehen, ple_225.002
Geschlechter steigen ins Grab, ple_225.003
Doch nimmer vergeht die Liebe, ple_225.004
Die ich im Herzen hab'.
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Nur einmal noch möcht' ich dich sehen, ple_225.006
Und sinken vor dir aufs Knie, ple_225.007
Und sterbend zu dir sprechen: ple_225.008
„Madam, ich liebe Sie!“
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Die bisher geschilderten komischen Wirkungen beruhen nun zwar ple_225.010
auf dem überraschenden Gegensatz zwischen Erwartung und Erfüllung ple_225.011
und entsprechen somit der Kantschen Definition. Dennoch ist dies nicht ple_225.012
die notwendige Grundform, sondern nur eine, allerdings die wirksamste ple_225.013
Gestalt, in welcher die hier in Rede stehende Gattung des Komischen auftreten ple_225.014
kann. Schon das muß zu denken geben, daß auch hier, wie bei ple_225.015
der Situationskomik, der Zuschauer vor der Bühne keineswegs immer überrascht ple_225.016
zu werden braucht, um eine Wendung lächerlich zu finden. In ple_225.017
Kleists Meisterlustspiel Der zerbrochene Krug sehen wir die Entdeckung ple_225.018
des Sünders Adam lange vorher kommen, ehe die Personen auf der ple_225.019
Bühne sie gemacht haben, und doch tut das der erheiternden Wirkung ple_225.020
nicht den mindesten Eintrag. Wir werden vielmehr ganz allgemein sagen ple_225.021
müssen: überall, wo ein Hohes und Bedeutungsvolles in ein Nichtiges und ple_225.022
Kleines umschlägt oder sich als ein solches enthüllt, wirkt der Gegensatz ple_225.023
komisch. 1) Die Überraschung erhöht freilich stets diese Wirkung, ist aber ple_225.024
keineswegs unbedingt nötig, um sie hervorzurufen. Auf den Kontrast ple_225.025
zwischen Hohem und Niedrigem ist fast die ganze Komik des Don Quichote ple_225.026
gestellt. Alles was der törichte Held für groß und bedeutungsvoll hält, ple_225.027
ist in Wahrheit nichtig und gewöhnlich, und der Dichter läßt uns von ple_225.028
vornherein darüber nicht im Zweifel. Gleichwohl versagt ihm die komische ple_225.029
Wirkung nicht. Man lese etwa das Kapitel (T. I, 31), wo Sancho Pansa ple_225.030
über seine Botschaft an Dulcinea von Toboso berichtet: „Du kamst an,“ ple_225.031
sagte Don Quichote, „womit beschäftigte sich denn die Königin der ple_225.032
Schönheit? Ohne Zweifel fandest du sie, wie sie Perlen aufreihte oder ple_225.033
für ihren gefangenen Ritter ein Sinnbild in Gold stickte?“ „So fand ple_225.034
ich sie nicht,“ antwortete Sancho, „sondern sie worfelte gerade ein ple_225.035
paar Scheffel Weizen auf der Tenne ihres Hauses.“ „Aber sage mir ple_225.036
weiter, was machte sie mit meinem Brief, als du ihn übergabst? Küßte ple_225.037
sie ihn? Drückte sie ihn an ihre Stirn? Gab sie sonst durch irgend ple_225.038
eine Geberde zu erkennen, wie wert ihr der Brief war? Oder was tat ple_225.039
sie?“ „Als ich ihr den Brief geben wollte,“ sagte Sancho, „stand sie eben ple_225.040
im dicksten Staube, den ein Haufen geworfelten Weizens verursacht hatte.
1) ple_225.041
Daher hat Lipps ganz recht, wenn er (Komik und Humor S. 137) die Kantische ple_225.042
Definition erweitert und den Begriff der Spannung in den der psychischen Disposition ple_225.043
umdeutet.
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