Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_226.001 ple_226.004 ple_226.017 ple_226.001 ple_226.004 ple_226.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0240" n="226"/><lb n="ple_226.001"/> ,Legt euren Brief nur dort auf den Sack, Freund,' sprach sie, ,ich habe <lb n="ple_226.002"/> nicht eher Zeit, ihn zu lesen, bis ich all den Weizen, der hier liegt, geworfelt <lb n="ple_226.003"/> habe.'“ u. s. w.</p> <p><lb n="ple_226.004"/> Immermanns Münchhausen, dessen Schloßroman in vielen Stücken <lb n="ple_226.005"/> den Einfluß des Don Quichote zeigt, bildet ein würdiges Gegenstück zu <lb n="ple_226.006"/> diesem klassischen Vorbild. Der alte Baron mit seinen Legitimitätshoffnungen, <lb n="ple_226.007"/> das ältliche Fräulein Emerenzia, die den Bedienten Karl Buttervogel <lb n="ple_226.008"/> solange für einen Fürsten, den früheren Angebeteten ihres Herzens, <lb n="ple_226.009"/> hält und als solchen behandelt, bis er selbst daran glaubt, der Schulmeister <lb n="ple_226.010"/> Agesel, der ein Nachkomme des Lacedämonierkönigs Agesilaos zu sein <lb n="ple_226.011"/> vermeint, sie alle wirken durch den Gegensatz zwischen einer banalen <lb n="ple_226.012"/> Wirklichkeit und der überspannten Höhe ihrer Einbildungen. Und hier <lb n="ple_226.013"/> ebenso wie im Don Quichote ist der Leser von vornherein über den Wahn <lb n="ple_226.014"/> unterrichtet, in dem die Personen sich bewegen; ihre Narrheiten und Mißverständnisse <lb n="ple_226.015"/> wie deren Lösungen überraschen kaum in einzelnen Punkten, <lb n="ple_226.016"/> und doch wirkt die Darstellung im höchsten Grade erheiternd.</p> <p><lb n="ple_226.017"/> Daher ist denn in solchen Fällen ein Hin und Her zwischen dem <lb n="ple_226.018"/> Kleinen und dem Großen, zwischen Ernst und Scherz, ein beständiges <lb n="ple_226.019"/> Wiederanknüpfen des Gegensatzes möglich, und der Charakter des Spiels <lb n="ple_226.020"/> tritt dabei besonders deutlich hervor. Die künstlerische Disposition zu <lb n="ple_226.021"/> solchem Spiel war es, was die Romantiker „Ironie“ nannten und in so <lb n="ple_226.022"/> vielen ihrer Dichtungen auszudrücken strebten: die Auflösung der Stimmung <lb n="ple_226.023"/> in ihr Gegenteil, die erneute Wiederanspannung und Auflösung. <lb n="ple_226.024"/> Belehrend ist in dieser Hinsicht Tiecks Komödie <hi rendition="#g">Die verkehrte Welt,</hi> <lb n="ple_226.025"/> wo — freilich mit einer Absichtlichkeit, welche die erheiternde Wirkung <lb n="ple_226.026"/> beeinträchtigt, — die dargestellte Handlung beständig in die Darstellung <lb n="ple_226.027"/> der Bühne als solcher umschlägt, Dichter, Theaterdirektor und Maschinist <lb n="ple_226.028"/> unter den handelnden Personen auftreten und die Bühne einen Ort der <lb n="ple_226.029"/> Handlung, zugleich aber die Bühne selbst darstellt. — Tiefsinniger und <lb n="ple_226.030"/> zwingender sind die Phantasieschöpfungen E. Th. A. Hoffmanns. Er liebt <lb n="ple_226.031"/> es, seinen Personen eine groteske Doppelnatur zu verleihen: alltägliche <lb n="ple_226.032"/> Menschen, subalterne Beamten oder Handwerker erscheinen plötzlich als <lb n="ple_226.033"/> Zauberer oder Dämonen, um alsbald wieder in die alte Banalität zurückzusinken. <lb n="ple_226.034"/> Der Archivarius Lindhorst ist eigentlich ein mächtiger Geisterfürst, <lb n="ple_226.035"/> die Stiftsdame von Rosengrünschön eine gute Fee; der Magister <lb n="ple_226.036"/> Tinte, der die armen Kinder peinigt, die ihm zur Erziehung übergeben <lb n="ple_226.037"/> sind, ist in Wahrheit eine große Brummfliege oder ein Dämon in der Gestalt <lb n="ple_226.038"/> einer solchen, und der König Daukus Carota, der um die Hand der <lb n="ple_226.039"/> hübschen kleinen Baronesse wirbt, eine Mohrrübe. — Auch Heine kennt <lb n="ple_226.040"/> nicht nur den Umschlag vom Erhabenen ins Lächerliche, von dem wir <lb n="ple_226.041"/> eben ein Beispiel sahen; er weiß auch den umgekehrten Weg zu finden, <lb n="ple_226.042"/> und viele seiner späteren Gedichte, besonders aber der Atta Troll, zeigen <lb n="ple_226.043"/> das echt romantisch-ironische Wechselspiel zwischen Erhabenem und Banalem.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [226/0240]
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,Legt euren Brief nur dort auf den Sack, Freund,' sprach sie, ,ich habe ple_226.002
nicht eher Zeit, ihn zu lesen, bis ich all den Weizen, der hier liegt, geworfelt ple_226.003
habe.'“ u. s. w.
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Immermanns Münchhausen, dessen Schloßroman in vielen Stücken ple_226.005
den Einfluß des Don Quichote zeigt, bildet ein würdiges Gegenstück zu ple_226.006
diesem klassischen Vorbild. Der alte Baron mit seinen Legitimitätshoffnungen, ple_226.007
das ältliche Fräulein Emerenzia, die den Bedienten Karl Buttervogel ple_226.008
solange für einen Fürsten, den früheren Angebeteten ihres Herzens, ple_226.009
hält und als solchen behandelt, bis er selbst daran glaubt, der Schulmeister ple_226.010
Agesel, der ein Nachkomme des Lacedämonierkönigs Agesilaos zu sein ple_226.011
vermeint, sie alle wirken durch den Gegensatz zwischen einer banalen ple_226.012
Wirklichkeit und der überspannten Höhe ihrer Einbildungen. Und hier ple_226.013
ebenso wie im Don Quichote ist der Leser von vornherein über den Wahn ple_226.014
unterrichtet, in dem die Personen sich bewegen; ihre Narrheiten und Mißverständnisse ple_226.015
wie deren Lösungen überraschen kaum in einzelnen Punkten, ple_226.016
und doch wirkt die Darstellung im höchsten Grade erheiternd.
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Daher ist denn in solchen Fällen ein Hin und Her zwischen dem ple_226.018
Kleinen und dem Großen, zwischen Ernst und Scherz, ein beständiges ple_226.019
Wiederanknüpfen des Gegensatzes möglich, und der Charakter des Spiels ple_226.020
tritt dabei besonders deutlich hervor. Die künstlerische Disposition zu ple_226.021
solchem Spiel war es, was die Romantiker „Ironie“ nannten und in so ple_226.022
vielen ihrer Dichtungen auszudrücken strebten: die Auflösung der Stimmung ple_226.023
in ihr Gegenteil, die erneute Wiederanspannung und Auflösung. ple_226.024
Belehrend ist in dieser Hinsicht Tiecks Komödie Die verkehrte Welt, ple_226.025
wo — freilich mit einer Absichtlichkeit, welche die erheiternde Wirkung ple_226.026
beeinträchtigt, — die dargestellte Handlung beständig in die Darstellung ple_226.027
der Bühne als solcher umschlägt, Dichter, Theaterdirektor und Maschinist ple_226.028
unter den handelnden Personen auftreten und die Bühne einen Ort der ple_226.029
Handlung, zugleich aber die Bühne selbst darstellt. — Tiefsinniger und ple_226.030
zwingender sind die Phantasieschöpfungen E. Th. A. Hoffmanns. Er liebt ple_226.031
es, seinen Personen eine groteske Doppelnatur zu verleihen: alltägliche ple_226.032
Menschen, subalterne Beamten oder Handwerker erscheinen plötzlich als ple_226.033
Zauberer oder Dämonen, um alsbald wieder in die alte Banalität zurückzusinken. ple_226.034
Der Archivarius Lindhorst ist eigentlich ein mächtiger Geisterfürst, ple_226.035
die Stiftsdame von Rosengrünschön eine gute Fee; der Magister ple_226.036
Tinte, der die armen Kinder peinigt, die ihm zur Erziehung übergeben ple_226.037
sind, ist in Wahrheit eine große Brummfliege oder ein Dämon in der Gestalt ple_226.038
einer solchen, und der König Daukus Carota, der um die Hand der ple_226.039
hübschen kleinen Baronesse wirbt, eine Mohrrübe. — Auch Heine kennt ple_226.040
nicht nur den Umschlag vom Erhabenen ins Lächerliche, von dem wir ple_226.041
eben ein Beispiel sahen; er weiß auch den umgekehrten Weg zu finden, ple_226.042
und viele seiner späteren Gedichte, besonders aber der Atta Troll, zeigen ple_226.043
das echt romantisch-ironische Wechselspiel zwischen Erhabenem und Banalem.
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