Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_228.001 ple_228.010 ple_228.001 ple_228.010 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0242" n="228"/><lb n="ple_228.001"/> Augen so furchtbar auf, daß jener entsetzt zurückfährt; aber es erfolgt <lb n="ple_228.002"/> sofort wieder eine Erklärung Lokis, die ganz ins Komische fällt. Verwandte <lb n="ple_228.003"/> Wirkung rufen die gemalten Totentänze des 15. und 16. Jahrhunderts <lb n="ple_228.004"/> hervor, welche schauerliche Gerippe in lächerlichen Verrenkungen zeigen, <lb n="ple_228.005"/> und dem entspricht die Goethesche Behandlung des Totentanzes in der <lb n="ple_228.006"/> bekannten Ballade. Grotesk in diesem Sinne ist die Schilderung der <lb n="ple_228.007"/> Hexen in Macbeth. Und mit der höchsten Virtuosität weiß E. Th. A. Hoffmann <lb n="ple_228.008"/> diese Doppelstimmung hervorzurufen und in beide Extreme hinein <lb n="ple_228.009"/> zu steigern.</p> <p><lb n="ple_228.010"/> Aber die Komik der Übertreibung ist auch einer anderen Entwicklung <lb n="ple_228.011"/> fähig, die von den bisher geschilderten einfachen Verhältnissen stufenweise <lb n="ple_228.012"/> zu Erscheinungen höherer Ordnung und Bedeutsamkeit hinaufführt. Es <lb n="ple_228.013"/> entsteht nämlich eine neue Reihe komischer Wirkungen, wenn nicht der <lb n="ple_228.014"/> ganze Mensch in unnatürlichem und phantastischem Maßstabe vergrößert <lb n="ple_228.015"/> erscheint, sondern nur einzelne Züge im Verhältnis zu den übrigen übertrieben <lb n="ple_228.016"/> hervortreten. Das Wesen der gezeichneten Karikatur beruht ganz <lb n="ple_228.017"/> und gar auf solchen Verschiebungen des natürlichen Gleichmaßes. Eine <lb n="ple_228.018"/> bekannte Methode der gewöhnlichen Witzblätter ist es, den Körper eines <lb n="ple_228.019"/> Menschen kleiner wiederzugeben als den Kopf, was immer lächerlich wirkt. <lb n="ple_228.020"/> Künstlerischen Wert freilich erhält die Karikatur erst dann, wenn es typische <lb n="ple_228.021"/> oder individuelle, charakteristische Züge sind, die in dieser Weise hervorgehoben <lb n="ple_228.022"/> werden. Genau auf dem gleichen Verhältnis oder Mißverhältnis <lb n="ple_228.023"/> beruht die <hi rendition="#g">Charakterkomik</hi> in der Dichtung. Wie dort einzelne Züge <lb n="ple_228.024"/> der äußeren Erscheinung im Mißverhältnis zu den anderen hervortreten, <lb n="ple_228.025"/> so werden hier einzelne Charakterzüge zu besonderer Größe und Bedeutung <lb n="ple_228.026"/> aufgetrieben. Die Komik, die auf diese Weise entsteht, ist einer <lb n="ple_228.027"/> großen Reihe von Abstufungen vom Groben zum Feinen fähig, sie bewegt <lb n="ple_228.028"/> sich zwischen den typischen Masken eines Pierrot und Dottore, zwischen <lb n="ple_228.029"/> Shakespeares betrunkenen Kesselflickern und Polizeisoldaten oder den Rekruten <lb n="ple_228.030"/> Heinrichs V. einerseits und der nur eben ins Komische getauchten <lb n="ple_228.031"/> Charakteristik eines Paul Werner oder Just andrerseits, ja in ein und derselben <lb n="ple_228.032"/> Dichtung zwischen Beckmesser und Hans Sachs, zwischen Schmok <lb n="ple_228.033"/> und Bolz. Je äußerlicher die hervortretenden Züge sind, desto gröber ist <lb n="ple_228.034"/> die Schilderung und der Effekt; auffallende Gewohnheiten, sich stereotyp <lb n="ple_228.035"/> wiederholende Redensarten im Munde derselben Person sind unfehlbare, <lb n="ple_228.036"/> doch grobe Mittel das Publikum zum Lachen zu bringen. Aber auch wo die <lb n="ple_228.037"/> Charakteristik innerlicher ist, weist sie noch sehr verschiedene Schattierungen <lb n="ple_228.038"/> auf. Je stärker die einzelnen Züge hervortreten, je ausschließlicher sie <lb n="ple_228.039"/> herrschen, desto drastischer ist die Wirkung, gerade wie in der Karikatur <lb n="ple_228.040"/> ein Kopf wirkt, der ganz Nase oder ganz Stirn zu sein scheint: man denke <lb n="ple_228.041"/> an Molières Geizigen, der ganz Geiz, oder den bürgerlichen Edelmann, der <lb n="ple_228.042"/> ganz Eitelkeit zu sein scheint, an Holbergs Barbier Gert Westphaler, der <lb n="ple_228.043"/> überhaupt keine andere Eigenschaft zu besitzen scheint als Schwatzhaftigkeit, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [228/0242]
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Augen so furchtbar auf, daß jener entsetzt zurückfährt; aber es erfolgt ple_228.002
sofort wieder eine Erklärung Lokis, die ganz ins Komische fällt. Verwandte ple_228.003
Wirkung rufen die gemalten Totentänze des 15. und 16. Jahrhunderts ple_228.004
hervor, welche schauerliche Gerippe in lächerlichen Verrenkungen zeigen, ple_228.005
und dem entspricht die Goethesche Behandlung des Totentanzes in der ple_228.006
bekannten Ballade. Grotesk in diesem Sinne ist die Schilderung der ple_228.007
Hexen in Macbeth. Und mit der höchsten Virtuosität weiß E. Th. A. Hoffmann ple_228.008
diese Doppelstimmung hervorzurufen und in beide Extreme hinein ple_228.009
zu steigern.
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Aber die Komik der Übertreibung ist auch einer anderen Entwicklung ple_228.011
fähig, die von den bisher geschilderten einfachen Verhältnissen stufenweise ple_228.012
zu Erscheinungen höherer Ordnung und Bedeutsamkeit hinaufführt. Es ple_228.013
entsteht nämlich eine neue Reihe komischer Wirkungen, wenn nicht der ple_228.014
ganze Mensch in unnatürlichem und phantastischem Maßstabe vergrößert ple_228.015
erscheint, sondern nur einzelne Züge im Verhältnis zu den übrigen übertrieben ple_228.016
hervortreten. Das Wesen der gezeichneten Karikatur beruht ganz ple_228.017
und gar auf solchen Verschiebungen des natürlichen Gleichmaßes. Eine ple_228.018
bekannte Methode der gewöhnlichen Witzblätter ist es, den Körper eines ple_228.019
Menschen kleiner wiederzugeben als den Kopf, was immer lächerlich wirkt. ple_228.020
Künstlerischen Wert freilich erhält die Karikatur erst dann, wenn es typische ple_228.021
oder individuelle, charakteristische Züge sind, die in dieser Weise hervorgehoben ple_228.022
werden. Genau auf dem gleichen Verhältnis oder Mißverhältnis ple_228.023
beruht die Charakterkomik in der Dichtung. Wie dort einzelne Züge ple_228.024
der äußeren Erscheinung im Mißverhältnis zu den anderen hervortreten, ple_228.025
so werden hier einzelne Charakterzüge zu besonderer Größe und Bedeutung ple_228.026
aufgetrieben. Die Komik, die auf diese Weise entsteht, ist einer ple_228.027
großen Reihe von Abstufungen vom Groben zum Feinen fähig, sie bewegt ple_228.028
sich zwischen den typischen Masken eines Pierrot und Dottore, zwischen ple_228.029
Shakespeares betrunkenen Kesselflickern und Polizeisoldaten oder den Rekruten ple_228.030
Heinrichs V. einerseits und der nur eben ins Komische getauchten ple_228.031
Charakteristik eines Paul Werner oder Just andrerseits, ja in ein und derselben ple_228.032
Dichtung zwischen Beckmesser und Hans Sachs, zwischen Schmok ple_228.033
und Bolz. Je äußerlicher die hervortretenden Züge sind, desto gröber ist ple_228.034
die Schilderung und der Effekt; auffallende Gewohnheiten, sich stereotyp ple_228.035
wiederholende Redensarten im Munde derselben Person sind unfehlbare, ple_228.036
doch grobe Mittel das Publikum zum Lachen zu bringen. Aber auch wo die ple_228.037
Charakteristik innerlicher ist, weist sie noch sehr verschiedene Schattierungen ple_228.038
auf. Je stärker die einzelnen Züge hervortreten, je ausschließlicher sie ple_228.039
herrschen, desto drastischer ist die Wirkung, gerade wie in der Karikatur ple_228.040
ein Kopf wirkt, der ganz Nase oder ganz Stirn zu sein scheint: man denke ple_228.041
an Molières Geizigen, der ganz Geiz, oder den bürgerlichen Edelmann, der ple_228.042
ganz Eitelkeit zu sein scheint, an Holbergs Barbier Gert Westphaler, der ple_228.043
überhaupt keine andere Eigenschaft zu besitzen scheint als Schwatzhaftigkeit,
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