Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_011.001 1) ple_011.043
Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und bildenden Künste, Werke Bd. 24 S. 314. ple_011.001 1) ple_011.043
Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und bildenden Künste, Werke Bd. 24 S. 314. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0025" n="11"/><lb n="ple_011.001"/> hat. Er strebt ein Verständnis nach geschichtlichen und ethnographischen <lb n="ple_011.002"/> Gesichtspunkten an, ein Verständnis universaler Art, das ohne <lb n="ple_011.003"/> Voraussetzungen und Vorurteile die Erscheinungen der Poesie, wo es sie <lb n="ple_011.004"/> findet, nach ihrer Eigenart würdigt. „Jener Sultan“, sagt er,<note xml:id="ple_011_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_011.043"/> Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und bildenden Künste, Werke Bd. 24 S. 314.</note> „freute <lb n="ple_011.005"/> sich über die vielen Religionen, die in seinem Reiche, jede auf ihre <lb n="ple_011.006"/> Weise, Gott verehrten. Es kam ihm wie eine schöne bunte Aue vor, <lb n="ple_011.007"/> auf der mancherlei Blumen blühten. So ist's mit der Poesie der Völker <lb n="ple_011.008"/> und Zeiten auf unserem Erdenrunde; in jeder Zeit und Sprache war sie <lb n="ple_011.009"/> der Inbegriff der Fehler und Vollkommenheiten einer Nation, ein Spiegel <lb n="ple_011.010"/> ihrer Gesinnungen, der Ausdruck des Höchsten, nach welchem sie strebte. <lb n="ple_011.011"/> Diese Gemälde (minder und mehr vollkommene, wahre und falsche <lb n="ple_011.012"/> Ideale) gegeneinander zu stellen, gibt ein lehrreiches Vergnügen. In dieser <lb n="ple_011.013"/> Gallerie verschiedener Denkarten, Anstrebungen und Wünsche lernen wir <lb n="ple_011.014"/> Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als auf dem täuschenden trostlosen <lb n="ple_011.015"/> Wege ihrer politischen und Kriegsgeschichte.“ Er bezeichnet es als <lb n="ple_011.016"/> „<hi rendition="#g">Naturmethode</hi>“, „jede Blume an ihrem Ort zu lassen und dort, ganz <lb n="ple_011.017"/> wie sie ist, nach Zeit und Art, von der Wurzel bis zur Krone zu betrachten. <lb n="ple_011.018"/> — Flechte, Moos, Farrenkraut und die reichste Gewürzblume — <lb n="ple_011.019"/> jedes blühet an seiner Stelle in Gottes Ordnung.“ Man sieht: der imperative <lb n="ple_011.020"/> und normative Charakter der bisherigen Betrachtungsweise ist hier <lb n="ple_011.021"/> aufgegeben. An die Stelle der vorschreibenden tritt die beschreibende Poetik, <lb n="ple_011.022"/> an die Stelle der einseitig wertenden die geschichtliche und vergleichende <lb n="ple_011.023"/> Anschauung. Jede nationale oder individuelle Erscheinungsform der Poesie <lb n="ple_011.024"/> hat ihren Wert in sich, und dieser Fülle der Erscheinungen gegenüber hat <lb n="ple_011.025"/> niemand das Recht eine einzelne gleichfalls geschichtlich bedingte Form <lb n="ple_011.026"/> zum Maßstabe zu machen. „Man hat einen Begriff der Ode“ (wir würden <lb n="ple_011.027"/> sagen des lyrischen Gedichts) „festsetzen wollen. Aber was ist die Ode? <lb n="ple_011.028"/> die griechische, römische, orientalische, skaldische, neuere ist nicht völlig <lb n="ple_011.029"/> dieselbe. Welche von ihnen ist die beste, welche sind bloß Abweichungen? <lb n="ple_011.030"/> Ich könnte es leicht beweisen, daß die meisten Untersucher nach ihrem <lb n="ple_011.031"/> Lieblingsgedanken entschieden haben, weil jeder seine Begriffe und Regeln <lb n="ple_011.032"/> bloß von einer Art eines Volkes abzog und die übrigen für Abweichungen <lb n="ple_011.033"/> erklärte. Der unparteiische Untersucher nimmt alle Gattungen für gleichwürdig <lb n="ple_011.034"/> seiner Bemerkungen an, und sucht sich also zuerst eine Geschichte <lb n="ple_011.035"/> im ganzen zu bilden, um nachher über alles zu urteilen.“ (Versuch einer <lb n="ple_011.036"/> Geschichte der Dichtkunst, 1767.) Ja Herder sieht sich bei aller Begeisterung <lb n="ple_011.037"/> für das Griechentum in scharfen Gegensatz zu dem einseitigen Klassizismus <lb n="ple_011.038"/> seiner Zeitgenossen gerückt. „O das verwünschte Wort <hi rendition="#g">klassisch!</hi> <lb n="ple_011.039"/> Dies Wort hat manches Genie unter einen Schutt von Worten vergraben, es <lb n="ple_011.040"/> hat dem Vaterlande blühende Fruchtbäume entzogen.“ Und so ist es denn <lb n="ple_011.041"/> auch ein naher und natürlicher Schritt zu der nationalen Wendung: „Keiner <lb n="ple_011.042"/> Nation dürfen wir es also verargen, wenn sie vor allen anderen ihre Dichter </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [11/0025]
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hat. Er strebt ein Verständnis nach geschichtlichen und ethnographischen ple_011.002
Gesichtspunkten an, ein Verständnis universaler Art, das ohne ple_011.003
Voraussetzungen und Vorurteile die Erscheinungen der Poesie, wo es sie ple_011.004
findet, nach ihrer Eigenart würdigt. „Jener Sultan“, sagt er, 1) „freute ple_011.005
sich über die vielen Religionen, die in seinem Reiche, jede auf ihre ple_011.006
Weise, Gott verehrten. Es kam ihm wie eine schöne bunte Aue vor, ple_011.007
auf der mancherlei Blumen blühten. So ist's mit der Poesie der Völker ple_011.008
und Zeiten auf unserem Erdenrunde; in jeder Zeit und Sprache war sie ple_011.009
der Inbegriff der Fehler und Vollkommenheiten einer Nation, ein Spiegel ple_011.010
ihrer Gesinnungen, der Ausdruck des Höchsten, nach welchem sie strebte. ple_011.011
Diese Gemälde (minder und mehr vollkommene, wahre und falsche ple_011.012
Ideale) gegeneinander zu stellen, gibt ein lehrreiches Vergnügen. In dieser ple_011.013
Gallerie verschiedener Denkarten, Anstrebungen und Wünsche lernen wir ple_011.014
Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als auf dem täuschenden trostlosen ple_011.015
Wege ihrer politischen und Kriegsgeschichte.“ Er bezeichnet es als ple_011.016
„Naturmethode“, „jede Blume an ihrem Ort zu lassen und dort, ganz ple_011.017
wie sie ist, nach Zeit und Art, von der Wurzel bis zur Krone zu betrachten. ple_011.018
— Flechte, Moos, Farrenkraut und die reichste Gewürzblume — ple_011.019
jedes blühet an seiner Stelle in Gottes Ordnung.“ Man sieht: der imperative ple_011.020
und normative Charakter der bisherigen Betrachtungsweise ist hier ple_011.021
aufgegeben. An die Stelle der vorschreibenden tritt die beschreibende Poetik, ple_011.022
an die Stelle der einseitig wertenden die geschichtliche und vergleichende ple_011.023
Anschauung. Jede nationale oder individuelle Erscheinungsform der Poesie ple_011.024
hat ihren Wert in sich, und dieser Fülle der Erscheinungen gegenüber hat ple_011.025
niemand das Recht eine einzelne gleichfalls geschichtlich bedingte Form ple_011.026
zum Maßstabe zu machen. „Man hat einen Begriff der Ode“ (wir würden ple_011.027
sagen des lyrischen Gedichts) „festsetzen wollen. Aber was ist die Ode? ple_011.028
die griechische, römische, orientalische, skaldische, neuere ist nicht völlig ple_011.029
dieselbe. Welche von ihnen ist die beste, welche sind bloß Abweichungen? ple_011.030
Ich könnte es leicht beweisen, daß die meisten Untersucher nach ihrem ple_011.031
Lieblingsgedanken entschieden haben, weil jeder seine Begriffe und Regeln ple_011.032
bloß von einer Art eines Volkes abzog und die übrigen für Abweichungen ple_011.033
erklärte. Der unparteiische Untersucher nimmt alle Gattungen für gleichwürdig ple_011.034
seiner Bemerkungen an, und sucht sich also zuerst eine Geschichte ple_011.035
im ganzen zu bilden, um nachher über alles zu urteilen.“ (Versuch einer ple_011.036
Geschichte der Dichtkunst, 1767.) Ja Herder sieht sich bei aller Begeisterung ple_011.037
für das Griechentum in scharfen Gegensatz zu dem einseitigen Klassizismus ple_011.038
seiner Zeitgenossen gerückt. „O das verwünschte Wort klassisch! ple_011.039
Dies Wort hat manches Genie unter einen Schutt von Worten vergraben, es ple_011.040
hat dem Vaterlande blühende Fruchtbäume entzogen.“ Und so ist es denn ple_011.041
auch ein naher und natürlicher Schritt zu der nationalen Wendung: „Keiner ple_011.042
Nation dürfen wir es also verargen, wenn sie vor allen anderen ihre Dichter
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Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und bildenden Künste, Werke Bd. 24 S. 314.
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