Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_243.001 ple_243.036 ple_243.001 ple_243.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0257" n="243"/><lb n="ple_243.001"/> des 17. und 18. Jahrhunderts das Wesen des Tragischen zu bestimmen <lb n="ple_243.002"/> suchten, konnten sie in die nur halb verständliche und dazu noch durch <lb n="ple_243.003"/> die Textüberlieferung verdorbene Definition mit einiger Kunst allemal das <lb n="ple_243.004"/> hineinlegen, was sie gerne herauslesen wollten. So gab ihr Corneille <lb n="ple_243.005"/> und die ihm folgende französische Ästhetik eine ausschließlich moralische <lb n="ple_243.006"/> Deutung. Er interpretierte: die Tragödie sei eine Dichtung, die durch <lb n="ple_243.007"/> Schrecken und Mitleid Läuterung von den <hi rendition="#g">dargestellten</hi> Leidenschaften <lb n="ple_243.008"/> herbeiführe. Gemeint war, die Tragödie führe Leidenschaften, etwa Ehrgeiz <lb n="ple_243.009"/> oder Eifersucht, vor, um durch ihre schreckenerregenden Folgen und <lb n="ple_243.010"/> das Mitleid mit ihren Opfern die Zuschauer zu bessern. Die Beziehung <lb n="ple_243.011"/> auf die „dargestellten“ Leidenschaften war freilich ebenso willkürlich wie die <lb n="ple_243.012"/> Vertauschung der Begriffe Furcht und Schrecken. Und diese Blöße gab <lb n="ple_243.013"/> Lessing den Anlaß, die allzu platte und plump moralisierende Deutung <lb n="ple_243.014"/> mit Erfolg zu bekämpfen. Was er indessen selbst in den berühmten <lb n="ple_243.015"/> Abschnitten 74 ff. der Hamburgischen Dramaturgie an ihre Stelle setzte, <lb n="ple_243.016"/> war sachlich nicht eben stichhaltiger: eine geistreiche, aber gesuchte und <lb n="ple_243.017"/> gewundene Interpretation, die den griechischen Philosophen noch dazu <lb n="ple_243.018"/> mit dem Wesen aller künstlerischen Wirkung in Widerspruch setzt. Auf <lb n="ple_243.019"/> eine vermeintliche Parallelstelle aus einer anderen Aristotelischen Schrift <lb n="ple_243.020"/> sich stützend, deutete Lessing gegen sprachliche und sachliche Wahrscheinlichkeit <lb n="ple_243.021"/> das Wort <hi rendition="#g">Furcht</hi> als das auf uns selbst bezogene <hi rendition="#g">Mitleid,</hi> <lb n="ple_243.022"/> so daß der Satz den Sinn erhielt: die Tragödie bringt dadurch, daß sie <lb n="ple_243.023"/> unser Mitleid für andere und unsere Furcht für uns selbst erregt, eine <lb n="ple_243.024"/> „Reinigung dieser und dergleichen Affekte“ hervor. Diese Reinigung soll <lb n="ple_243.025"/> nach der Meinung des Hamburgischen Dramaturgen darin bestehen, daß <lb n="ple_243.026"/> sie uns vor „beiden Extremis“ d. h. vor Überschwänglichkeit sowohl wie <lb n="ple_243.027"/> vor Abstumpfung wahrt. Die Erklärung ist sprachlich und sachlich gleich <lb n="ple_243.028"/> haltlos; auch ist sie nicht minder einseitig moralisierend als die der Franzosen. <lb n="ple_243.029"/> Nur den einen Fortschritt bezeichnet sie, daß sie die bessernde oder <lb n="ple_243.030"/> läuternde Wirkung wenigstens nicht mehr von dem Inhalt im einzelnen <lb n="ple_243.031"/> erwartet, als ob die Tragödie eine zu Besserungszwecken erfundene Fabel <lb n="ple_243.032"/> sei, sondern sie vielmehr auf die Charakterverfassung des Zuschauers überhaupt <lb n="ple_243.033"/> bezieht. Es schwebt etwas wie Veredlung der Gesamtpersönlichkeit <lb n="ple_243.034"/> vor, wiewohl Lessing weder den Ausdruck gebraucht noch den Gedanken <lb n="ple_243.035"/> selbst in seiner Tiefe erfaßt hat.</p> <p><lb n="ple_243.036"/> Dieser Gedanke nun aber bildet ganz und gar den Lebensnerv in <lb n="ple_243.037"/> Schillers Lehre von der tragischen Kunst. Nachdem er in seinen beiden <lb n="ple_243.038"/> ersten ästhetischen Arbeiten zwei verschiedene, aber gleichmäßig verfehlte <lb n="ple_243.039"/> Ansätze zur Lösung des Problems gemacht hatte, gelangte er in der Abhandlung <lb n="ple_243.040"/> <hi rendition="#g">Vom Erhabenen,</hi> insbesondere in dem Abschnitt <hi rendition="#g">Über das <lb n="ple_243.041"/> Pathetische,</hi> der als selbständiger Aufsatz in die Werke übergegangen <lb n="ple_243.042"/> ist, zur endgültigen Begründung seines Standpunktes, und dieser bezeichnet <lb n="ple_243.043"/> einen entschiedenen Fortschritt über die Lehre seiner Vorgänger. Zwar </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [243/0257]
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des 17. und 18. Jahrhunderts das Wesen des Tragischen zu bestimmen ple_243.002
suchten, konnten sie in die nur halb verständliche und dazu noch durch ple_243.003
die Textüberlieferung verdorbene Definition mit einiger Kunst allemal das ple_243.004
hineinlegen, was sie gerne herauslesen wollten. So gab ihr Corneille ple_243.005
und die ihm folgende französische Ästhetik eine ausschließlich moralische ple_243.006
Deutung. Er interpretierte: die Tragödie sei eine Dichtung, die durch ple_243.007
Schrecken und Mitleid Läuterung von den dargestellten Leidenschaften ple_243.008
herbeiführe. Gemeint war, die Tragödie führe Leidenschaften, etwa Ehrgeiz ple_243.009
oder Eifersucht, vor, um durch ihre schreckenerregenden Folgen und ple_243.010
das Mitleid mit ihren Opfern die Zuschauer zu bessern. Die Beziehung ple_243.011
auf die „dargestellten“ Leidenschaften war freilich ebenso willkürlich wie die ple_243.012
Vertauschung der Begriffe Furcht und Schrecken. Und diese Blöße gab ple_243.013
Lessing den Anlaß, die allzu platte und plump moralisierende Deutung ple_243.014
mit Erfolg zu bekämpfen. Was er indessen selbst in den berühmten ple_243.015
Abschnitten 74 ff. der Hamburgischen Dramaturgie an ihre Stelle setzte, ple_243.016
war sachlich nicht eben stichhaltiger: eine geistreiche, aber gesuchte und ple_243.017
gewundene Interpretation, die den griechischen Philosophen noch dazu ple_243.018
mit dem Wesen aller künstlerischen Wirkung in Widerspruch setzt. Auf ple_243.019
eine vermeintliche Parallelstelle aus einer anderen Aristotelischen Schrift ple_243.020
sich stützend, deutete Lessing gegen sprachliche und sachliche Wahrscheinlichkeit ple_243.021
das Wort Furcht als das auf uns selbst bezogene Mitleid, ple_243.022
so daß der Satz den Sinn erhielt: die Tragödie bringt dadurch, daß sie ple_243.023
unser Mitleid für andere und unsere Furcht für uns selbst erregt, eine ple_243.024
„Reinigung dieser und dergleichen Affekte“ hervor. Diese Reinigung soll ple_243.025
nach der Meinung des Hamburgischen Dramaturgen darin bestehen, daß ple_243.026
sie uns vor „beiden Extremis“ d. h. vor Überschwänglichkeit sowohl wie ple_243.027
vor Abstumpfung wahrt. Die Erklärung ist sprachlich und sachlich gleich ple_243.028
haltlos; auch ist sie nicht minder einseitig moralisierend als die der Franzosen. ple_243.029
Nur den einen Fortschritt bezeichnet sie, daß sie die bessernde oder ple_243.030
läuternde Wirkung wenigstens nicht mehr von dem Inhalt im einzelnen ple_243.031
erwartet, als ob die Tragödie eine zu Besserungszwecken erfundene Fabel ple_243.032
sei, sondern sie vielmehr auf die Charakterverfassung des Zuschauers überhaupt ple_243.033
bezieht. Es schwebt etwas wie Veredlung der Gesamtpersönlichkeit ple_243.034
vor, wiewohl Lessing weder den Ausdruck gebraucht noch den Gedanken ple_243.035
selbst in seiner Tiefe erfaßt hat.
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Dieser Gedanke nun aber bildet ganz und gar den Lebensnerv in ple_243.037
Schillers Lehre von der tragischen Kunst. Nachdem er in seinen beiden ple_243.038
ersten ästhetischen Arbeiten zwei verschiedene, aber gleichmäßig verfehlte ple_243.039
Ansätze zur Lösung des Problems gemacht hatte, gelangte er in der Abhandlung ple_243.040
Vom Erhabenen, insbesondere in dem Abschnitt Über das ple_243.041
Pathetische, der als selbständiger Aufsatz in die Werke übergegangen ple_243.042
ist, zur endgültigen Begründung seines Standpunktes, und dieser bezeichnet ple_243.043
einen entschiedenen Fortschritt über die Lehre seiner Vorgänger. Zwar
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