Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_244.001 ple_244.015 ple_244.024 ple_244.001 ple_244.015 ple_244.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0258" n="244"/><lb n="ple_244.001"/> auch für Schiller ist die tragische Wirkung ethischer Natur und das Tragische <lb n="ple_244.002"/> selbst ein moralisches Phänomen, aber nur deshalb, weil ihm ethische und <lb n="ple_244.003"/> ästhetische Werte und Wirkungen überhaupt untrennbar zusammenfließen, <lb n="ple_244.004"/> weil für ihn das Gute und das Schöne nur verschiedene Formen desselben <lb n="ple_244.005"/> Ideals darstellen und jede ästhetische Wirkung zugleich eine ethische ist. <lb n="ple_244.006"/> Er knüpft an Kants Begriff des Erhabenen an, den er ganz ins Ethische <lb n="ple_244.007"/> umdeutet. Der <hi rendition="#g">erhabene</hi> Charakter ist der, bei dem das Sittengesetz <lb n="ple_244.008"/> über das Triebleben herrscht; er bewährt sich als solcher, indem er den <lb n="ple_244.009"/> Naturtrieb zugunsten der sittlichen Vernunft unterdrückt; er leidet und stirbt, <lb n="ple_244.010"/> um das sittliche Ideal zu wahren. Eben dies, das Erhabene im Leiden <lb n="ple_244.011"/> darzustellen, ist das Wesen der tragischen Kunst. Sie erregt unser Mitleid, <lb n="ple_244.012"/> indem sie uns Leiden und Untergang zeigt, aber sie erfüllt uns mit einem <lb n="ple_244.013"/> erhabenen Lustgefühl, wenn wir sehen, wie das Gute und Große im Menschen <lb n="ple_244.014"/> über Leiden und Tod triumphiert.</p> <p><lb n="ple_244.015"/> Es ist klar, daß hier zum erstenmal eine inhaltvolle und verständliche <lb n="ple_244.016"/> Antwort auf jenes Grundproblem des Tragischen gegeben ist. Daß freilich <lb n="ple_244.017"/> auch in Schillers Lehre eine Einseitigkeit liegt, zeigt die Art, wie er sich <lb n="ple_244.018"/> mit den großen Bösewichtern auf der tragischen Bühne abfindet: nur <lb n="ple_244.019"/> durch eine gekünstelte und wenig zwingende Wendung vermag er hier <lb n="ple_244.020"/> die Beziehung auf das sittlich Erhabene festzuhalten. Trotz dieser Einseitigkeit <lb n="ple_244.021"/> scheint mir Schillers Grundanschauung bis heute der Wahrheit am <lb n="ple_244.022"/> nächsten zu kommen, wenigstens von keiner anderen übertroffen zu sein: <lb n="ple_244.023"/> unsere weitere Untersuchung wird das bewähren.</p> <p><lb n="ple_244.024"/> Auch von den metaphysischen Philosophen, die auf Kant und Schiller <lb n="ple_244.025"/> folgten, haben sich die bedeutendsten mit dem Wesen des Tragischen beschäftigt, <lb n="ple_244.026"/> sowohl Schelling wie Schopenhauer und besonders Hegel, dessen <lb n="ple_244.027"/> Lehre dann für die Ästhetik auch in diesem Punkte von weitreichendem <lb n="ple_244.028"/> Einfluß geworden ist. Allein man merkt nur zu deutlich, daß diese Denker <lb n="ple_244.029"/> nicht von dem Problem als solchem ausgegangen sind, um es wissenschaftlich <lb n="ple_244.030"/> zu lösen, sondern vielmehr von vornherein in der tragischen Kunst <lb n="ple_244.031"/> eine Bestätigung ihrer metaphysischen Anschauungen suchten und fanden. <lb n="ple_244.032"/> Die Methode, die sie dabei verfolgen, ist überall dieselbe: sie greifen diejenigen <lb n="ple_244.033"/> Erscheinungsformen des Tragischen aus dem Gesamtgebiet heraus, <lb n="ple_244.034"/> die am leichtesten im Sinne jener Anschauungen gedeutet werden können; <lb n="ple_244.035"/> die übrigen vernachlässigen sie oder deuten sie gewaltsam um. So leiden <lb n="ple_244.036"/> die meisten dieser Theorien an dem doppelten Fehler, daß sie einmal — <lb n="ple_244.037"/> ebenso wie uns das bei den Lehren vom Komischen entgegentrat — <lb n="ple_244.038"/> zu eng sind und die Fülle der Erscheinungen nicht erschöpfen, und <lb n="ple_244.039"/> zweitens, daß sie aus allgemeinen Ideen konstruiert und nicht aus der <lb n="ple_244.040"/> Erfahrung abgezogen sind. So sieht Schelling im Wesen des Tragischen <lb n="ple_244.041"/> den Widerstreit des Einzelnen und Endlichen mit dem Absoluten; Hegel <lb n="ple_244.042"/> findet in ihm den künstlerischen Ausdruck für die Selbstentzweiung der <lb n="ple_244.043"/> Idee, Schopenhauer den Beweis für die pessimistische Wertung der Welt: </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [244/0258]
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auch für Schiller ist die tragische Wirkung ethischer Natur und das Tragische ple_244.002
selbst ein moralisches Phänomen, aber nur deshalb, weil ihm ethische und ple_244.003
ästhetische Werte und Wirkungen überhaupt untrennbar zusammenfließen, ple_244.004
weil für ihn das Gute und das Schöne nur verschiedene Formen desselben ple_244.005
Ideals darstellen und jede ästhetische Wirkung zugleich eine ethische ist. ple_244.006
Er knüpft an Kants Begriff des Erhabenen an, den er ganz ins Ethische ple_244.007
umdeutet. Der erhabene Charakter ist der, bei dem das Sittengesetz ple_244.008
über das Triebleben herrscht; er bewährt sich als solcher, indem er den ple_244.009
Naturtrieb zugunsten der sittlichen Vernunft unterdrückt; er leidet und stirbt, ple_244.010
um das sittliche Ideal zu wahren. Eben dies, das Erhabene im Leiden ple_244.011
darzustellen, ist das Wesen der tragischen Kunst. Sie erregt unser Mitleid, ple_244.012
indem sie uns Leiden und Untergang zeigt, aber sie erfüllt uns mit einem ple_244.013
erhabenen Lustgefühl, wenn wir sehen, wie das Gute und Große im Menschen ple_244.014
über Leiden und Tod triumphiert.
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Es ist klar, daß hier zum erstenmal eine inhaltvolle und verständliche ple_244.016
Antwort auf jenes Grundproblem des Tragischen gegeben ist. Daß freilich ple_244.017
auch in Schillers Lehre eine Einseitigkeit liegt, zeigt die Art, wie er sich ple_244.018
mit den großen Bösewichtern auf der tragischen Bühne abfindet: nur ple_244.019
durch eine gekünstelte und wenig zwingende Wendung vermag er hier ple_244.020
die Beziehung auf das sittlich Erhabene festzuhalten. Trotz dieser Einseitigkeit ple_244.021
scheint mir Schillers Grundanschauung bis heute der Wahrheit am ple_244.022
nächsten zu kommen, wenigstens von keiner anderen übertroffen zu sein: ple_244.023
unsere weitere Untersuchung wird das bewähren.
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Auch von den metaphysischen Philosophen, die auf Kant und Schiller ple_244.025
folgten, haben sich die bedeutendsten mit dem Wesen des Tragischen beschäftigt, ple_244.026
sowohl Schelling wie Schopenhauer und besonders Hegel, dessen ple_244.027
Lehre dann für die Ästhetik auch in diesem Punkte von weitreichendem ple_244.028
Einfluß geworden ist. Allein man merkt nur zu deutlich, daß diese Denker ple_244.029
nicht von dem Problem als solchem ausgegangen sind, um es wissenschaftlich ple_244.030
zu lösen, sondern vielmehr von vornherein in der tragischen Kunst ple_244.031
eine Bestätigung ihrer metaphysischen Anschauungen suchten und fanden. ple_244.032
Die Methode, die sie dabei verfolgen, ist überall dieselbe: sie greifen diejenigen ple_244.033
Erscheinungsformen des Tragischen aus dem Gesamtgebiet heraus, ple_244.034
die am leichtesten im Sinne jener Anschauungen gedeutet werden können; ple_244.035
die übrigen vernachlässigen sie oder deuten sie gewaltsam um. So leiden ple_244.036
die meisten dieser Theorien an dem doppelten Fehler, daß sie einmal — ple_244.037
ebenso wie uns das bei den Lehren vom Komischen entgegentrat — ple_244.038
zu eng sind und die Fülle der Erscheinungen nicht erschöpfen, und ple_244.039
zweitens, daß sie aus allgemeinen Ideen konstruiert und nicht aus der ple_244.040
Erfahrung abgezogen sind. So sieht Schelling im Wesen des Tragischen ple_244.041
den Widerstreit des Einzelnen und Endlichen mit dem Absoluten; Hegel ple_244.042
findet in ihm den künstlerischen Ausdruck für die Selbstentzweiung der ple_244.043
Idee, Schopenhauer den Beweis für die pessimistische Wertung der Welt:
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