Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_013.001 ple_013.027 ple_013.001 ple_013.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0027" n="13"/><lb n="ple_013.001"/> und in seinem inneren Zusammenhang sichtbar werden kann. Diese tiefere <lb n="ple_013.002"/> Auffassung wurde nun zunächst in einem ideellen und metaphysischen Zusammenhang <lb n="ple_013.003"/> gesucht, dessen man sich durch philosophisches Denken, <lb n="ple_013.004"/> durch Ideenkonstruktionen bemächtigen könne. Eine solche Vermischung <lb n="ple_013.005"/> spekulativer und geschichtlicher Betrachtungsart finden wir schon bei <hi rendition="#g">Herder</hi> <lb n="ple_013.006"/> selbst; weiter aber geht <hi rendition="#g">Schiller,</hi> bei dem die philosophischen Gesichtspunkte <lb n="ple_013.007"/> die historischen fast ganz beiseite drängen; so vor allem in seiner <lb n="ple_013.008"/> zusammenfassenden Hauptschrift: „Über die ästhetische Erziehung des <lb n="ple_013.009"/> Menschen“. Hier unternimmt es der Dichterphilosoph, das Wesen der Kunst <lb n="ple_013.010"/> aus der Natur des Menschen abzuleiten und zwar ihrer Entstehung sowohl, <lb n="ple_013.011"/> wie ihren Wirkungen nach. Aber es ist nicht der empirisch gegebene Mensch <lb n="ple_013.012"/> der verschiedenen Zeiten und Völker, woran er denkt: was er unter dem <lb n="ple_013.013"/> Worte versteht, ist ein Idealbegriff, eine Konstruktion ethischen Inhalts; und <lb n="ple_013.014"/> nicht geschichtliche oder psychologische Erkenntnis, sondern die Vorstellung <lb n="ple_013.015"/> von dem sittlichen Zweck des Menschenlebens ist es, woraus das Wesen <lb n="ple_013.016"/> der Kunst und der Poesie durch speziellere Zweckbestimmungen abgeleitet <lb n="ple_013.017"/> wird: ganz in Übereinstimmung mit jener bereits gekennzeichneten Tendenz, <lb n="ple_013.018"/> die Kunstlehre zum Ausschnitt einer umfassenden sittlichen Weltanschauung <lb n="ple_013.019"/> zu gestalten. Nur vereinzelt mischen sich psychologische und <lb n="ple_013.020"/> historische Elemente in die geistreichen Begriffskonstruktionen: sie lassen <lb n="ple_013.021"/> den Abstand von dem Bilde der Wirklichkeit nur schärfer hervortreten. <lb n="ple_013.022"/> In einem eigentümlichen Nebeneinander erscheinen „Spieltrieb, Stofftrieb <lb n="ple_013.023"/> und Formentrieb“; — der erste wenigstens ursprünglich ein psychologischer <lb n="ple_013.024"/> Begriff, die beiden letzten jedoch Abstraktionen, bei denen aller <lb n="ple_013.025"/> empirische Gehalt von der ästhetischen Spekulation überwuchert und fast <lb n="ple_013.026"/> gänzlich aufgezehrt ist.</p> <p><lb n="ple_013.027"/> Eine ähnliche Vermischung von empirischer Erkenntnis und metaphysischer <lb n="ple_013.028"/> Begriffsbildung ist es bekanntlich, aus dem die stolzen Systeme der <lb n="ple_013.029"/> idealistischen Philosophie <hi rendition="#g">Schellings</hi> und besonders <hi rendition="#g">Hegels</hi> erwachsen <lb n="ple_013.030"/> sind. Und so ist es denn begreiflich, daß die deutsche Ästhetik, solange sie <lb n="ple_013.031"/> unter dem Einfluß dieser Denker stand, d. h. bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts <lb n="ple_013.032"/> hinaus, das entsprechende Bild zeigt. <hi rendition="#g">Hegel</hi> sieht die <hi rendition="#g">Idee des <lb n="ple_013.033"/> Schönen,</hi> in einem Winckelmann innerlich verwandten Sinne, als das <lb n="ple_013.034"/> absolut Bestimmende an. Wie sein ganzes System, so ist auch die Methode <lb n="ple_013.035"/> seiner Ästhetik von der Vorstellung durchdrungen, daß sich die geschichtlich <lb n="ple_013.036"/> empirische Wahrheit durch reines Denken ableiten lassen müsse. <lb n="ple_013.037"/> Tatsätlich konnten hieraus nur Zwitterschöpfungen hervorgehen, halb historisch <lb n="ple_013.038"/> induktiver, halb spekulativ deduktiver Natur, zur Hälfte geschichtliche <lb n="ple_013.039"/> Betrachtung, zur größeren Hälfte metaphysische Ideengespinnste. Die aus <lb n="ple_013.040"/> Hegels Schule hervorgegangenen ästhetischen und literarhistorischen Werke <lb n="ple_013.041"/> zeigen durchweg diesen Charakter. Das bedeutendste unter ihnen ist <lb n="ple_013.042"/> <hi rendition="#g">Friedrich Vischers Ästhetik</hi> oder Wissenschaft des Schönen (1846–57), <lb n="ple_013.043"/> ein umfassendes Werk voller Lichtblicke und Anregungen, dessen geistvoller </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [13/0027]
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und in seinem inneren Zusammenhang sichtbar werden kann. Diese tiefere ple_013.002
Auffassung wurde nun zunächst in einem ideellen und metaphysischen Zusammenhang ple_013.003
gesucht, dessen man sich durch philosophisches Denken, ple_013.004
durch Ideenkonstruktionen bemächtigen könne. Eine solche Vermischung ple_013.005
spekulativer und geschichtlicher Betrachtungsart finden wir schon bei Herder ple_013.006
selbst; weiter aber geht Schiller, bei dem die philosophischen Gesichtspunkte ple_013.007
die historischen fast ganz beiseite drängen; so vor allem in seiner ple_013.008
zusammenfassenden Hauptschrift: „Über die ästhetische Erziehung des ple_013.009
Menschen“. Hier unternimmt es der Dichterphilosoph, das Wesen der Kunst ple_013.010
aus der Natur des Menschen abzuleiten und zwar ihrer Entstehung sowohl, ple_013.011
wie ihren Wirkungen nach. Aber es ist nicht der empirisch gegebene Mensch ple_013.012
der verschiedenen Zeiten und Völker, woran er denkt: was er unter dem ple_013.013
Worte versteht, ist ein Idealbegriff, eine Konstruktion ethischen Inhalts; und ple_013.014
nicht geschichtliche oder psychologische Erkenntnis, sondern die Vorstellung ple_013.015
von dem sittlichen Zweck des Menschenlebens ist es, woraus das Wesen ple_013.016
der Kunst und der Poesie durch speziellere Zweckbestimmungen abgeleitet ple_013.017
wird: ganz in Übereinstimmung mit jener bereits gekennzeichneten Tendenz, ple_013.018
die Kunstlehre zum Ausschnitt einer umfassenden sittlichen Weltanschauung ple_013.019
zu gestalten. Nur vereinzelt mischen sich psychologische und ple_013.020
historische Elemente in die geistreichen Begriffskonstruktionen: sie lassen ple_013.021
den Abstand von dem Bilde der Wirklichkeit nur schärfer hervortreten. ple_013.022
In einem eigentümlichen Nebeneinander erscheinen „Spieltrieb, Stofftrieb ple_013.023
und Formentrieb“; — der erste wenigstens ursprünglich ein psychologischer ple_013.024
Begriff, die beiden letzten jedoch Abstraktionen, bei denen aller ple_013.025
empirische Gehalt von der ästhetischen Spekulation überwuchert und fast ple_013.026
gänzlich aufgezehrt ist.
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Eine ähnliche Vermischung von empirischer Erkenntnis und metaphysischer ple_013.028
Begriffsbildung ist es bekanntlich, aus dem die stolzen Systeme der ple_013.029
idealistischen Philosophie Schellings und besonders Hegels erwachsen ple_013.030
sind. Und so ist es denn begreiflich, daß die deutsche Ästhetik, solange sie ple_013.031
unter dem Einfluß dieser Denker stand, d. h. bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts ple_013.032
hinaus, das entsprechende Bild zeigt. Hegel sieht die Idee des ple_013.033
Schönen, in einem Winckelmann innerlich verwandten Sinne, als das ple_013.034
absolut Bestimmende an. Wie sein ganzes System, so ist auch die Methode ple_013.035
seiner Ästhetik von der Vorstellung durchdrungen, daß sich die geschichtlich ple_013.036
empirische Wahrheit durch reines Denken ableiten lassen müsse. ple_013.037
Tatsätlich konnten hieraus nur Zwitterschöpfungen hervorgehen, halb historisch ple_013.038
induktiver, halb spekulativ deduktiver Natur, zur Hälfte geschichtliche ple_013.039
Betrachtung, zur größeren Hälfte metaphysische Ideengespinnste. Die aus ple_013.040
Hegels Schule hervorgegangenen ästhetischen und literarhistorischen Werke ple_013.041
zeigen durchweg diesen Charakter. Das bedeutendste unter ihnen ist ple_013.042
Friedrich Vischers Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1846–57), ple_013.043
ein umfassendes Werk voller Lichtblicke und Anregungen, dessen geistvoller
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