Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_035.001 ple_035.029 1) ple_035.041
Wertvolles Material hierüber -- wesentlich aus Selbstbekenntnissen von Dichtern ple_035.042 entnommen -- hat O. Behaghel zusammengestellt: Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen ple_035.043 Schaffen. Leipzig 1906. ple_035.001 ple_035.029 1) ple_035.041
Wertvolles Material hierüber — wesentlich aus Selbstbekenntnissen von Dichtern ple_035.042 entnommen — hat O. Behaghel zusammengestellt: Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen ple_035.043 Schaffen. Leipzig 1906. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0049" n="35"/> <p><lb n="ple_035.001"/> Was aber den Einblick in den geschilderten Prozeß am meisten erschwert, <lb n="ple_035.002"/> ja entscheidend zu verhindern scheint, ist die sonderbare Verflechtung <lb n="ple_035.003"/> von bewußten und unbewußten Vorgängen, aus denen er sich zusammensetzt, <lb n="ple_035.004"/> oder genauer gesagt, die zahllosen Abstufungen der Bewußtseinsklarheit, <lb n="ple_035.005"/> in denen er sich vollzieht.<note xml:id="ple_035_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_035.041"/> Wertvolles Material hierüber — wesentlich aus Selbstbekenntnissen von Dichtern <lb n="ple_035.042"/> entnommen — hat <hi rendition="#k">O. Behaghel</hi> zusammengestellt: Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen <lb n="ple_035.043"/> Schaffen. Leipzig 1906.</note> Schon in bezug auf die <hi rendition="#g">Entlehnungen</hi> <lb n="ple_035.006"/> und <hi rendition="#g">Übernahmen,</hi> mit denen die heutige Literaturgeschichte <lb n="ple_035.007"/> so gerne operiert, macht sich das geltend. Jeder Dichter, auch der selbständigste, <lb n="ple_035.008"/> übernimmt von Vorgängern: Motive, Formen, Ideen. Aber es <lb n="ple_035.009"/> macht für den Charakter seiner Produktionsweise noch mehr als für ihren <lb n="ple_035.010"/> Wert einen erheblichen Unterschied, ob er mit bewußter Absicht wiederbringt, <lb n="ple_035.011"/> was schon einmal da war, oder ob er es unbewußt aus der Fülle <lb n="ple_035.012"/> dessen, was er aus den verschiedenen Quellen des Lebens und der Dichtung <lb n="ple_035.013"/> in sich aufgenommen hat, noch einmal hervorbringt. Unbewußte <lb n="ple_035.014"/> Reminiszenzen, namentlich wenn sie vereinzelt auftreten, sind höchstens <lb n="ple_035.015"/> als Symptome von Bedeutung; an sich besagen sie gar wenig, denn wir <lb n="ple_035.016"/> alle, Dichter wie Laien, leben und denken beständig in solchen. Bewußte <lb n="ple_035.017"/> Entlehnungen wiederum können ebensowohl aus überlegener Meisterschaft <lb n="ple_035.018"/> wie aus schülerhafter Abhängigkeit hervorgehen. Lessing entlehnte quantitativ <lb n="ple_035.019"/> kaum weniger als seine stümperhaften Vorgänger und gleichwohl war <lb n="ple_035.020"/> er der erste selbständige deutsche Dramatiker. Die vergleichende Literaturgeschichte <lb n="ple_035.021"/> der Gegenwart verfährt in diesem Punkte viel zu gleichförmig. <lb n="ple_035.022"/> Sie zählt Entlehnungen über Entlehnungen, Anklänge über Anklänge auf, <lb n="ple_035.023"/> und wenn man etwa die Analyse der Schillerschen Jugenddramen in den <lb n="ple_035.024"/> meisten modernen Biographien liest, so ist man versucht zu fragen, was <lb n="ple_035.025"/> ihnen denn eigentlich den Ruf der Originalität verschafft habe? Aber freilich <lb n="ple_035.026"/> wie sollte man es auch anders anfangen? Die Grenze zwischen Bewußtem <lb n="ple_035.027"/> und Unbewußtem ist schon hier oft schwer zu finden, oft überhaupt <lb n="ple_035.028"/> nicht festzustellen.</p> <p><lb n="ple_035.029"/> Dunkler aber und unentwirrbarer noch ist das Ineinandergreifen bewußter <lb n="ple_035.030"/> und unbewußter Zustände und Vorgänge in dem rein innerlichen <lb n="ple_035.031"/> Verlauf des dichterischen Schaffens. Die Konzeption selbst erscheint als <lb n="ple_035.032"/> ein Moment der höchsten Klarheit, aber woher sie kommt, was sie herbeiführt, <lb n="ple_035.033"/> ist in den meisten Fällen in gänzliches Dunkel gehüllt. Und die <lb n="ple_035.034"/> Dichter selbst betonen immer wieder das Plötzliche und ihnen selbst Unbegreifliche <lb n="ple_035.035"/> des Vorgangs. Die Fäden, die das Seelenleben des Dichters <lb n="ple_035.036"/> mit der Außenwelt verbinden, schießen plötzlich zusammen; <hi rendition="#g">ein</hi> Eindruck <lb n="ple_035.037"/> löst sie aus. Wie das geschieht, warum gerade dieser und nicht ein nächst <lb n="ple_035.038"/> verwandter — wer vermöchte das zu sagen! Daher Goethes oben angeführter <lb n="ple_035.039"/> Ausdruck von seinem <hi rendition="#g">nachtwandlerischen</hi> Dichten; und in <lb n="ple_035.040"/> dem gleichen Sinne bezeichnet Hebbel in seinem Tagebuch den „Zustand </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [35/0049]
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Was aber den Einblick in den geschilderten Prozeß am meisten erschwert, ple_035.002
ja entscheidend zu verhindern scheint, ist die sonderbare Verflechtung ple_035.003
von bewußten und unbewußten Vorgängen, aus denen er sich zusammensetzt, ple_035.004
oder genauer gesagt, die zahllosen Abstufungen der Bewußtseinsklarheit, ple_035.005
in denen er sich vollzieht. 1) Schon in bezug auf die Entlehnungen ple_035.006
und Übernahmen, mit denen die heutige Literaturgeschichte ple_035.007
so gerne operiert, macht sich das geltend. Jeder Dichter, auch der selbständigste, ple_035.008
übernimmt von Vorgängern: Motive, Formen, Ideen. Aber es ple_035.009
macht für den Charakter seiner Produktionsweise noch mehr als für ihren ple_035.010
Wert einen erheblichen Unterschied, ob er mit bewußter Absicht wiederbringt, ple_035.011
was schon einmal da war, oder ob er es unbewußt aus der Fülle ple_035.012
dessen, was er aus den verschiedenen Quellen des Lebens und der Dichtung ple_035.013
in sich aufgenommen hat, noch einmal hervorbringt. Unbewußte ple_035.014
Reminiszenzen, namentlich wenn sie vereinzelt auftreten, sind höchstens ple_035.015
als Symptome von Bedeutung; an sich besagen sie gar wenig, denn wir ple_035.016
alle, Dichter wie Laien, leben und denken beständig in solchen. Bewußte ple_035.017
Entlehnungen wiederum können ebensowohl aus überlegener Meisterschaft ple_035.018
wie aus schülerhafter Abhängigkeit hervorgehen. Lessing entlehnte quantitativ ple_035.019
kaum weniger als seine stümperhaften Vorgänger und gleichwohl war ple_035.020
er der erste selbständige deutsche Dramatiker. Die vergleichende Literaturgeschichte ple_035.021
der Gegenwart verfährt in diesem Punkte viel zu gleichförmig. ple_035.022
Sie zählt Entlehnungen über Entlehnungen, Anklänge über Anklänge auf, ple_035.023
und wenn man etwa die Analyse der Schillerschen Jugenddramen in den ple_035.024
meisten modernen Biographien liest, so ist man versucht zu fragen, was ple_035.025
ihnen denn eigentlich den Ruf der Originalität verschafft habe? Aber freilich ple_035.026
wie sollte man es auch anders anfangen? Die Grenze zwischen Bewußtem ple_035.027
und Unbewußtem ist schon hier oft schwer zu finden, oft überhaupt ple_035.028
nicht festzustellen.
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Dunkler aber und unentwirrbarer noch ist das Ineinandergreifen bewußter ple_035.030
und unbewußter Zustände und Vorgänge in dem rein innerlichen ple_035.031
Verlauf des dichterischen Schaffens. Die Konzeption selbst erscheint als ple_035.032
ein Moment der höchsten Klarheit, aber woher sie kommt, was sie herbeiführt, ple_035.033
ist in den meisten Fällen in gänzliches Dunkel gehüllt. Und die ple_035.034
Dichter selbst betonen immer wieder das Plötzliche und ihnen selbst Unbegreifliche ple_035.035
des Vorgangs. Die Fäden, die das Seelenleben des Dichters ple_035.036
mit der Außenwelt verbinden, schießen plötzlich zusammen; ein Eindruck ple_035.037
löst sie aus. Wie das geschieht, warum gerade dieser und nicht ein nächst ple_035.038
verwandter — wer vermöchte das zu sagen! Daher Goethes oben angeführter ple_035.039
Ausdruck von seinem nachtwandlerischen Dichten; und in ple_035.040
dem gleichen Sinne bezeichnet Hebbel in seinem Tagebuch den „Zustand
1) ple_035.041
Wertvolles Material hierüber — wesentlich aus Selbstbekenntnissen von Dichtern ple_035.042
entnommen — hat O. Behaghel zusammengestellt: Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen ple_035.043
Schaffen. Leipzig 1906.
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