Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_043.001 ple_043.023 ple_043.032 ple_043.039 ple_043.001 ple_043.023 ple_043.032 ple_043.039 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0057" n="43"/> <p><lb n="ple_043.001"/> Drei Bestandteile einer Dichtung pflegt die Analyse herkömmlicherweise <lb n="ple_043.002"/> zu unterscheiden: erstens den Stoff, zweitens den Gefühls- und Gedankengehalt, <lb n="ple_043.003"/> drittens die Form. Nun ist freilich sowohl diese Einteilung wie <lb n="ple_043.004"/> die ihr entsprechende Ausdrucksweise nicht nur Mißverständnissen, sondern <lb n="ple_043.005"/> auch berechtigten Einwänden ausgesetzt. Vor allem ist der Begriff der <lb n="ple_043.006"/> <hi rendition="#g">Form</hi> weder eindeutig noch klar, vielmehr weicht er gleichsam zurück, <lb n="ple_043.007"/> wenn man ihn greifen will. Man spricht von metrischer und sprachlicher, <lb n="ple_043.008"/> aber auch von lyrischer und dramatischer Form, ja man hört nicht selten <lb n="ple_043.009"/> auch von humoristischer und satirischer Form reden; — und die Einführung <lb n="ple_043.010"/> des Begriffes der <hi rendition="#g">inneren Form,</hi> die Scherer von W. von Humboldt <lb n="ple_043.011"/> übernommen hat, macht die Sache mindestens nicht einfacher und anschaulicher. <lb n="ple_043.012"/> Mit dem Wort <hi rendition="#g">Form</hi> verbinden wir immer die Vorstellung von <lb n="ple_043.013"/> etwas Äußerem, das als solches vom Inhalt abtrennbar ist. Dies aber paßt <lb n="ple_043.014"/> höchstens auf den metrischen Bau eines Gedichtes, sofern er auf einem <lb n="ple_043.015"/> Schema beruht, das auch auf andere Gedichte übertragen werden kann. <lb n="ple_043.016"/> Die Elemente eines Gedichtes existieren niemals nebeneinander, sondern <lb n="ple_043.017"/> immer nur eins im andern und durch das andre. Der Gegensatz des <lb n="ple_043.018"/> Äußeren und Inneren hat in der poetischen Kunstlehre streng genommen <lb n="ple_043.019"/> keinen Platz, und das Wort Goethes über die Naturbetrachtung gilt auch <lb n="ple_043.020"/> für die Poesie: <lb n="ple_043.021"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,</l><lb n="ple_043.022"/><l>Denn was innen ist, ist außen.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_043.023"/> Andrerseits entspringt auch die Bezeichnung <hi rendition="#g">Stoff</hi> für den Gegenstand <lb n="ple_043.024"/> einer Dichtung nur einem sehr ungenauen Vergleich mit den bildenden <lb n="ple_043.025"/> Künsten. Denn das Material der Poesie, aus dem sie schafft wie die Malerei <lb n="ple_043.026"/> aus Farben und die Musik aus Tönen, sind nicht überlieferte Inhalte irgendwelcher <lb n="ple_043.027"/> Art, sondern die Worte der Sprache; und eben deshalb bleibt die <lb n="ple_043.028"/> Poesie an die Gesetze der Sprache nach Seite des Klangs wie der Bedeutung <lb n="ple_043.029"/> der Worte gebunden. Die Scheidung von Form und Stoff, die <lb n="ple_043.030"/> hier ungenauerweise angewandt worden ist, hat lange Zeit dazu geführt, <lb n="ple_043.031"/> die Bedeutung der Sprache für das Wesen der Dichtkunst zu unterschätzen.</p> <p><lb n="ple_043.032"/> Trotz dieser berechtigten Bedenken nun aber kann die Poetik die <lb n="ple_043.033"/> überlieferte Einteilung selbst nicht völlig entbehren, und daher wird es am <lb n="ple_043.034"/> bequemsten sein, auch die einmal üblich gewordene Ausdrucksweise soweit <lb n="ple_043.035"/> wie möglich festzuhalten. Die Bedeutung freilich, welche den einzelnen <lb n="ple_043.036"/> Teilen für das Gesamtverständnis der Poesie zukommt, sowie die Abgrenzung <lb n="ple_043.037"/> der Gebiete im einzelnen, werden wir vielfach anders fassen müssen, als <lb n="ple_043.038"/> es die frühere und insbesondere die klassische Zeit getan hat.</p> <p><lb n="ple_043.039"/> Die Poetik muß von den <hi rendition="#g">Gesetzen der sprachlichen und metrischen <lb n="ple_043.040"/> Gestaltung</hi> ausgehen. Denn es kann nicht zweifelhaft sein, daß <lb n="ple_043.041"/> diese, wie sie die festesten und greifbarsten Bestandteile aller technischen <lb n="ple_043.042"/> Überlieferung sind, so auch für die theoretische Erkenntnis die sichersten <lb n="ple_043.043"/> Unterlagen liefern und am ersten vollständige Induktionen und systematische </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [43/0057]
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Drei Bestandteile einer Dichtung pflegt die Analyse herkömmlicherweise ple_043.002
zu unterscheiden: erstens den Stoff, zweitens den Gefühls- und Gedankengehalt, ple_043.003
drittens die Form. Nun ist freilich sowohl diese Einteilung wie ple_043.004
die ihr entsprechende Ausdrucksweise nicht nur Mißverständnissen, sondern ple_043.005
auch berechtigten Einwänden ausgesetzt. Vor allem ist der Begriff der ple_043.006
Form weder eindeutig noch klar, vielmehr weicht er gleichsam zurück, ple_043.007
wenn man ihn greifen will. Man spricht von metrischer und sprachlicher, ple_043.008
aber auch von lyrischer und dramatischer Form, ja man hört nicht selten ple_043.009
auch von humoristischer und satirischer Form reden; — und die Einführung ple_043.010
des Begriffes der inneren Form, die Scherer von W. von Humboldt ple_043.011
übernommen hat, macht die Sache mindestens nicht einfacher und anschaulicher. ple_043.012
Mit dem Wort Form verbinden wir immer die Vorstellung von ple_043.013
etwas Äußerem, das als solches vom Inhalt abtrennbar ist. Dies aber paßt ple_043.014
höchstens auf den metrischen Bau eines Gedichtes, sofern er auf einem ple_043.015
Schema beruht, das auch auf andere Gedichte übertragen werden kann. ple_043.016
Die Elemente eines Gedichtes existieren niemals nebeneinander, sondern ple_043.017
immer nur eins im andern und durch das andre. Der Gegensatz des ple_043.018
Äußeren und Inneren hat in der poetischen Kunstlehre streng genommen ple_043.019
keinen Platz, und das Wort Goethes über die Naturbetrachtung gilt auch ple_043.020
für die Poesie: ple_043.021
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, ple_043.022
Denn was innen ist, ist außen.
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Andrerseits entspringt auch die Bezeichnung Stoff für den Gegenstand ple_043.024
einer Dichtung nur einem sehr ungenauen Vergleich mit den bildenden ple_043.025
Künsten. Denn das Material der Poesie, aus dem sie schafft wie die Malerei ple_043.026
aus Farben und die Musik aus Tönen, sind nicht überlieferte Inhalte irgendwelcher ple_043.027
Art, sondern die Worte der Sprache; und eben deshalb bleibt die ple_043.028
Poesie an die Gesetze der Sprache nach Seite des Klangs wie der Bedeutung ple_043.029
der Worte gebunden. Die Scheidung von Form und Stoff, die ple_043.030
hier ungenauerweise angewandt worden ist, hat lange Zeit dazu geführt, ple_043.031
die Bedeutung der Sprache für das Wesen der Dichtkunst zu unterschätzen.
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Trotz dieser berechtigten Bedenken nun aber kann die Poetik die ple_043.033
überlieferte Einteilung selbst nicht völlig entbehren, und daher wird es am ple_043.034
bequemsten sein, auch die einmal üblich gewordene Ausdrucksweise soweit ple_043.035
wie möglich festzuhalten. Die Bedeutung freilich, welche den einzelnen ple_043.036
Teilen für das Gesamtverständnis der Poesie zukommt, sowie die Abgrenzung ple_043.037
der Gebiete im einzelnen, werden wir vielfach anders fassen müssen, als ple_043.038
es die frühere und insbesondere die klassische Zeit getan hat.
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Die Poetik muß von den Gesetzen der sprachlichen und metrischen ple_043.040
Gestaltung ausgehen. Denn es kann nicht zweifelhaft sein, daß ple_043.041
diese, wie sie die festesten und greifbarsten Bestandteile aller technischen ple_043.042
Überlieferung sind, so auch für die theoretische Erkenntnis die sichersten ple_043.043
Unterlagen liefern und am ersten vollständige Induktionen und systematische
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