Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.Schüler für schwerfällige Mühe mit einer Mißwachsernde. Aber Liebe, die zuerst im weiblichen Auge erlernt ward, lebt nicht blos in unsern Hirnschaalen eingemauert, sie bewegt all unsre Elemente, geht so schnell als Gedanken in jede unserer Kräfte über, und giebt jeder eine neue doppelte Kraft, sich über ihre vorige Sphäre zu erheben. Sie giebt dem Auge eine zehnfache Schärfe, eines Liebhabers Aug könnte einen Adler blind gaffen, eines Liebhabers Ohr könnte den leisesten Odemzug hören, selbst wenn des argwöhnischen Diebes Ohr ihn nicht hörte. Der Liebe Gefühl ist weit zärter und reizba- rer als das zarte Fell einer ausgekrochenen Schnecke, der Liebe Zunge beschämt Bachus im lüsternen Geschmacke, und was die Stärke anbetrift, ist Liebe nicht ein Herkules, der bis an die Hesperiden vordrang. Verschla- gen ist sie wie ein Sphinx, musikalisch wie die Laute Apollo mit seinem Haar besäytet. Und wenn die Liebe spricht, so macht die Stimme aller Götter den Himmel trunken von Harmonieen. Nie durfte ein Poet seine Feder eintunken, war seine Dinte nicht mit Liebesseufzern angemacht: o nur alsdann konnten seine Verse Ohren der Wilden hin- reißen, und in Tyrannen milde Menschlich- keit verpflanzen. Aus den Augen der Frauen- zimmer kommt alles her, sie allein funkeln vom H 4
Schuͤler fuͤr ſchwerfaͤllige Muͤhe mit einer Mißwachsernde. Aber Liebe, die zuerſt im weiblichen Auge erlernt ward, lebt nicht blos in unſern Hirnſchaalen eingemauert, ſie bewegt all unſre Elemente, geht ſo ſchnell als Gedanken in jede unſerer Kraͤfte uͤber, und giebt jeder eine neue doppelte Kraft, ſich uͤber ihre vorige Sphaͤre zu erheben. Sie giebt dem Auge eine zehnfache Schaͤrfe, eines Liebhabers Aug koͤnnte einen Adler blind gaffen, eines Liebhabers Ohr koͤnnte den leiſeſten Odemzug hoͤren, ſelbſt wenn des argwoͤhniſchen Diebes Ohr ihn nicht hoͤrte. Der Liebe Gefuͤhl iſt weit zaͤrter und reizba- rer als das zarte Fell einer ausgekrochenen Schnecke, der Liebe Zunge beſchaͤmt Bachus im luͤſternen Geſchmacke, und was die Staͤrke anbetrift, iſt Liebe nicht ein Herkules, der bis an die Heſperiden vordrang. Verſchla- gen iſt ſie wie ein Sphinx, muſikaliſch wie die Laute Apollo mit ſeinem Haar beſaͤytet. Und wenn die Liebe ſpricht, ſo macht die Stimme aller Goͤtter den Himmel trunken von Harmonieen. Nie durfte ein Poet ſeine Feder eintunken, war ſeine Dinte nicht mit Liebesſeufzern angemacht: o nur alsdann konnten ſeine Verſe Ohren der Wilden hin- reißen, und in Tyrannen milde Menſchlich- keit verpflanzen. Aus den Augen der Frauen- zimmer kommt alles her, ſie allein funkeln vom H 4
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Schuͤler fuͤr ſchwerfaͤllige Muͤhe mit einer
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weiblichen Auge erlernt ward, lebt nicht
blos in unſern Hirnſchaalen eingemauert,
ſie bewegt all unſre Elemente, geht ſo ſchnell
als Gedanken in jede unſerer Kraͤfte uͤber,
und giebt jeder eine neue doppelte Kraft,
ſich uͤber ihre vorige Sphaͤre zu erheben. Sie
giebt dem Auge eine zehnfache Schaͤrfe, eines
Liebhabers Aug koͤnnte einen Adler blind
gaffen, eines Liebhabers Ohr koͤnnte den
leiſeſten Odemzug hoͤren, ſelbſt wenn des
argwoͤhniſchen Diebes Ohr ihn nicht hoͤrte.
Der Liebe Gefuͤhl iſt weit zaͤrter und reizba-
rer als das zarte Fell einer ausgekrochenen
Schnecke, der Liebe Zunge beſchaͤmt Bachus
im luͤſternen Geſchmacke, und was die Staͤrke
anbetrift, iſt Liebe nicht ein Herkules, der
bis an die Heſperiden vordrang. Verſchla-
gen iſt ſie wie ein Sphinx, muſikaliſch wie
die Laute Apollo mit ſeinem Haar beſaͤytet.
Und wenn die Liebe ſpricht, ſo macht die
Stimme aller Goͤtter den Himmel trunken
von Harmonieen. Nie durfte ein Poet ſeine
Feder eintunken, war ſeine Dinte nicht mit
Liebesſeufzern angemacht: o nur alsdann
konnten ſeine Verſe Ohren der Wilden hin-
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