es ist der bloße verkleidete Komödiant, der nichts hat, nichts sagt, nichts thut, was es wahr- scheinlich machen könnte, er wäre das, wofür er sich ausgiebt; alle Umstände vielmehr, unter welchen er erscheinet, stören den Betrug, und verrathen das Geschöpf eines kalten Dichters, der uns gern täuschen und schrecken möchte, ohne daß er weiß, wie er es anfangen soll. Man überlege auch nur dieses einzige: am hellen Ta- ge, mitten in der Versamlung der Stände des Reichs, von einem Donnerschlage angekündiget, tritt das Voltairische Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehört, daß Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau hätte ihm nicht sagen können, daß die Gespen- ster das Sonnenlicht scheuen, und große Gesell- schaften gar nicht gern besuchten? Doch Vol- taire wußte zuverläßig das auch; aber er war zu furchtsam, zu eckel, diese gemeinen Umstände zu nutzen; er wollte uns einen Geist zeigen, aber es sollte ein Geist von einer edlern Art seyn; und durch diese edlere Art verdarb er alles. Das Gespenst, das sich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Gespenstern sind, dünket mich kein rechtes Gespenst zu seyn; und alles, was die Illusion hier nicht befördert, störet die Il- lusion.
Wenn
es iſt der bloße verkleidete Komoͤdiant, der nichts hat, nichts ſagt, nichts thut, was es wahr- ſcheinlich machen koͤnnte, er waͤre das, wofuͤr er ſich ausgiebt; alle Umſtaͤnde vielmehr, unter welchen er erſcheinet, ſtoͤren den Betrug, und verrathen das Geſchoͤpf eines kalten Dichters, der uns gern taͤuſchen und ſchrecken moͤchte, ohne daß er weiß, wie er es anfangen ſoll. Man uͤberlege auch nur dieſes einzige: am hellen Ta- ge, mitten in der Verſamlung der Staͤnde des Reichs, von einem Donnerſchlage angekuͤndiget, tritt das Voltairiſche Geſpenſt aus ſeiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoͤrt, daß Geſpenſter ſo dreiſt ſind? Welche alte Frau haͤtte ihm nicht ſagen koͤnnen, daß die Geſpen- ſter das Sonnenlicht ſcheuen, und große Geſell- ſchaften gar nicht gern beſuchten? Doch Vol- taire wußte zuverlaͤßig das auch; aber er war zu furchtſam, zu eckel, dieſe gemeinen Umſtaͤnde zu nutzen; er wollte uns einen Geiſt zeigen, aber es ſollte ein Geiſt von einer edlern Art ſeyn; und durch dieſe edlere Art verdarb er alles. Das Geſpenſt, das ſich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Geſpenſtern ſind, duͤnket mich kein rechtes Geſpenſt zu ſeyn; und alles, was die Illuſion hier nicht befoͤrdert, ſtoͤret die Il- luſion.
Wenn
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es iſt der bloße verkleidete Komoͤdiant, der nichts
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er ſich ausgiebt; alle Umſtaͤnde vielmehr, unter
welchen er erſcheinet, ſtoͤren den Betrug, und
verrathen das Geſchoͤpf eines kalten Dichters,
der uns gern taͤuſchen und ſchrecken moͤchte, ohne
daß er weiß, wie er es anfangen ſoll. Man
uͤberlege auch nur dieſes einzige: am hellen Ta-
ge, mitten in der Verſamlung der Staͤnde des
Reichs, von einem Donnerſchlage angekuͤndiget,
tritt das Voltairiſche Geſpenſt aus ſeiner Gruft
hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoͤrt, daß
Geſpenſter ſo dreiſt ſind? Welche alte Frau
haͤtte ihm nicht ſagen koͤnnen, daß die Geſpen-
ſter das Sonnenlicht ſcheuen, und große Geſell-
ſchaften gar nicht gern beſuchten? Doch Vol-
taire wußte zuverlaͤßig das auch; aber er war zu
furchtſam, zu eckel, dieſe gemeinen Umſtaͤnde zu
nutzen; er wollte uns einen Geiſt zeigen, aber
es ſollte ein Geiſt von einer edlern Art ſeyn;
und durch dieſe edlere Art verdarb er alles.
Das Geſpenſt, das ſich Dinge herausnimmt,
die wider alles Herkommen, wider alle gute
Sitten unter den Geſpenſtern ſind, duͤnket mich
kein rechtes Geſpenſt zu ſeyn; und alles, was
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/100>, abgerufen am 21.11.2024.
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