Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

es ist der bloße verkleidete Komödiant, der nichts
hat, nichts sagt, nichts thut, was es wahr-
scheinlich machen könnte, er wäre das, wofür
er sich ausgiebt; alle Umstände vielmehr, unter
welchen er erscheinet, stören den Betrug, und
verrathen das Geschöpf eines kalten Dichters,
der uns gern täuschen und schrecken möchte, ohne
daß er weiß, wie er es anfangen soll. Man
überlege auch nur dieses einzige: am hellen Ta-
ge, mitten in der Versamlung der Stände des
Reichs, von einem Donnerschlage angekündiget,
tritt das Voltairische Gespenst aus seiner Gruft
hervor. Wo hat Voltaire jemals gehört, daß
Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau
hätte ihm nicht sagen können, daß die Gespen-
ster das Sonnenlicht scheuen, und große Gesell-
schaften gar nicht gern besuchten? Doch Vol-
taire wußte zuverläßig das auch; aber er war zu
furchtsam, zu eckel, diese gemeinen Umstände zu
nutzen; er wollte uns einen Geist zeigen, aber
es sollte ein Geist von einer edlern Art seyn;
und durch diese edlere Art verdarb er alles.
Das Gespenst, das sich Dinge herausnimmt,
die wider alles Herkommen, wider alle gute
Sitten unter den Gespenstern sind, dünket mich
kein rechtes Gespenst zu seyn; und alles, was
die Illusion hier nicht befördert, störet die Il-
lusion.

Wenn

es iſt der bloße verkleidete Komoͤdiant, der nichts
hat, nichts ſagt, nichts thut, was es wahr-
ſcheinlich machen koͤnnte, er waͤre das, wofuͤr
er ſich ausgiebt; alle Umſtaͤnde vielmehr, unter
welchen er erſcheinet, ſtoͤren den Betrug, und
verrathen das Geſchoͤpf eines kalten Dichters,
der uns gern taͤuſchen und ſchrecken moͤchte, ohne
daß er weiß, wie er es anfangen ſoll. Man
uͤberlege auch nur dieſes einzige: am hellen Ta-
ge, mitten in der Verſamlung der Staͤnde des
Reichs, von einem Donnerſchlage angekuͤndiget,
tritt das Voltairiſche Geſpenſt aus ſeiner Gruft
hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoͤrt, daß
Geſpenſter ſo dreiſt ſind? Welche alte Frau
haͤtte ihm nicht ſagen koͤnnen, daß die Geſpen-
ſter das Sonnenlicht ſcheuen, und große Geſell-
ſchaften gar nicht gern beſuchten? Doch Vol-
taire wußte zuverlaͤßig das auch; aber er war zu
furchtſam, zu eckel, dieſe gemeinen Umſtaͤnde zu
nutzen; er wollte uns einen Geiſt zeigen, aber
es ſollte ein Geiſt von einer edlern Art ſeyn;
und durch dieſe edlere Art verdarb er alles.
Das Geſpenſt, das ſich Dinge herausnimmt,
die wider alles Herkommen, wider alle gute
Sitten unter den Geſpenſtern ſind, duͤnket mich
kein rechtes Geſpenſt zu ſeyn; und alles, was
die Illuſion hier nicht befoͤrdert, ſtoͤret die Il-
luſion.

Wenn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0100" n="86"/>
es i&#x017F;t der bloße verkleidete Komo&#x0364;diant, der nichts<lb/>
hat, nichts &#x017F;agt, nichts thut, was es wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlich machen ko&#x0364;nnte, er wa&#x0364;re das, wofu&#x0364;r<lb/>
er &#x017F;ich ausgiebt; alle Um&#x017F;ta&#x0364;nde vielmehr, unter<lb/>
welchen er er&#x017F;cheinet, &#x017F;to&#x0364;ren den Betrug, und<lb/>
verrathen das Ge&#x017F;cho&#x0364;pf eines kalten Dichters,<lb/>
der uns gern ta&#x0364;u&#x017F;chen und &#x017F;chrecken mo&#x0364;chte, ohne<lb/>
daß er weiß, wie er es anfangen &#x017F;oll. Man<lb/>
u&#x0364;berlege auch nur die&#x017F;es einzige: am hellen Ta-<lb/>
ge, mitten in der Ver&#x017F;amlung der Sta&#x0364;nde des<lb/>
Reichs, von einem Donner&#x017F;chlage angeku&#x0364;ndiget,<lb/>
tritt das Voltairi&#x017F;che Ge&#x017F;pen&#x017F;t aus &#x017F;einer Gruft<lb/>
hervor. Wo hat Voltaire jemals geho&#x0364;rt, daß<lb/>
Ge&#x017F;pen&#x017F;ter &#x017F;o drei&#x017F;t &#x017F;ind? Welche alte Frau<lb/>
ha&#x0364;tte ihm nicht &#x017F;agen ko&#x0364;nnen, daß die Ge&#x017F;pen-<lb/>
&#x017F;ter das Sonnenlicht &#x017F;cheuen, und große Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaften gar nicht gern be&#x017F;uchten? Doch Vol-<lb/>
taire wußte zuverla&#x0364;ßig das auch; aber er war zu<lb/>
furcht&#x017F;am, zu eckel, die&#x017F;e gemeinen Um&#x017F;ta&#x0364;nde zu<lb/>
nutzen; er wollte uns einen Gei&#x017F;t zeigen, aber<lb/>
es &#x017F;ollte ein Gei&#x017F;t von einer edlern Art &#x017F;eyn;<lb/>
und durch die&#x017F;e edlere Art verdarb er alles.<lb/>
Das Ge&#x017F;pen&#x017F;t, das &#x017F;ich Dinge herausnimmt,<lb/>
die wider alles Herkommen, wider alle gute<lb/>
Sitten unter den Ge&#x017F;pen&#x017F;tern &#x017F;ind, du&#x0364;nket mich<lb/>
kein rechtes Ge&#x017F;pen&#x017F;t zu &#x017F;eyn; und alles, was<lb/>
die Illu&#x017F;ion hier nicht befo&#x0364;rdert, &#x017F;to&#x0364;ret die Il-<lb/>
lu&#x017F;ion.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Wenn</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[86/0100] es iſt der bloße verkleidete Komoͤdiant, der nichts hat, nichts ſagt, nichts thut, was es wahr- ſcheinlich machen koͤnnte, er waͤre das, wofuͤr er ſich ausgiebt; alle Umſtaͤnde vielmehr, unter welchen er erſcheinet, ſtoͤren den Betrug, und verrathen das Geſchoͤpf eines kalten Dichters, der uns gern taͤuſchen und ſchrecken moͤchte, ohne daß er weiß, wie er es anfangen ſoll. Man uͤberlege auch nur dieſes einzige: am hellen Ta- ge, mitten in der Verſamlung der Staͤnde des Reichs, von einem Donnerſchlage angekuͤndiget, tritt das Voltairiſche Geſpenſt aus ſeiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoͤrt, daß Geſpenſter ſo dreiſt ſind? Welche alte Frau haͤtte ihm nicht ſagen koͤnnen, daß die Geſpen- ſter das Sonnenlicht ſcheuen, und große Geſell- ſchaften gar nicht gern beſuchten? Doch Vol- taire wußte zuverlaͤßig das auch; aber er war zu furchtſam, zu eckel, dieſe gemeinen Umſtaͤnde zu nutzen; er wollte uns einen Geiſt zeigen, aber es ſollte ein Geiſt von einer edlern Art ſeyn; und durch dieſe edlere Art verdarb er alles. Das Geſpenſt, das ſich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Geſpenſtern ſind, duͤnket mich kein rechtes Geſpenſt zu ſeyn; und alles, was die Illuſion hier nicht befoͤrdert, ſtoͤret die Il- luſion. Wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/100
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/100>, abgerufen am 21.11.2024.