Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen hätte, so würde er auch von einer andern Seite die Unschicklichkeit em- pfunden haben, ein Gespenst vor den Augen einer großen Menge erscheinen zu lassen. Alle müssen auf einmal, bey Erblickung desselben, Furcht und Entsetzen äußern; alle müssen es auf verschiedene Art äußern, wenn der Anblick nicht die frostige Symmetrie eines Ballets haben soll. Nun richte man einmal eine Heerde dumme Statisten dazu ab; und wenn man sie auf das glücklichste abgerichtet hat, so bedenke man, wie sehr dieser vielfache Ausdruck des nehmli- chen Affekts die Aufmerksamkeit theilen, und von den Hauptpersonen abziehen muß. Wenn diese den rechten Eindruck auf uns machen sollen, so müssen wir sie nicht allein sehen können, son- dern es ist auch gut, wenn wir sonst nichts sehen, als sie. Beym Shakespear ist es der einzige Hamlet, mit dem sich das Gespenst einläßt; in der Scene, wo die Mutter dabey ist, wird es von der Mutter weder gesehen noch gehört. Alle unsere Beobachtung geht also auf ihn, und je mehr Merkmale eines von Schauder und Schrecken zerrütteten Gemüths wir an ihm ent- decken, desto bereitwilliger sind wir, die Er- scheinung, welche diese Zerrüttung in ihm ver- ursacht, für eben das zu halten, wofür er sie hält. Das Gespenst wirket auf uns, mehr
durch
Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen haͤtte, ſo wuͤrde er auch von einer andern Seite die Unſchicklichkeit em- pfunden haben, ein Geſpenſt vor den Augen einer großen Menge erſcheinen zu laſſen. Alle muͤſſen auf einmal, bey Erblickung deſſelben, Furcht und Entſetzen aͤußern; alle muͤſſen es auf verſchiedene Art aͤußern, wenn der Anblick nicht die froſtige Symmetrie eines Ballets haben ſoll. Nun richte man einmal eine Heerde dumme Statiſten dazu ab; und wenn man ſie auf das gluͤcklichſte abgerichtet hat, ſo bedenke man, wie ſehr dieſer vielfache Ausdruck des nehmli- chen Affekts die Aufmerkſamkeit theilen, und von den Hauptperſonen abziehen muß. Wenn dieſe den rechten Eindruck auf uns machen ſollen, ſo muͤſſen wir ſie nicht allein ſehen koͤnnen, ſon- dern es iſt auch gut, wenn wir ſonſt nichts ſehen, als ſie. Beym Shakeſpear iſt es der einzige Hamlet, mit dem ſich das Geſpenſt einlaͤßt; in der Scene, wo die Mutter dabey iſt, wird es von der Mutter weder geſehen noch gehoͤrt. Alle unſere Beobachtung geht alſo auf ihn, und je mehr Merkmale eines von Schauder und Schrecken zerruͤtteten Gemuͤths wir an ihm ent- decken, deſto bereitwilliger ſind wir, die Er- ſcheinung, welche dieſe Zerruͤttung in ihm ver- urſacht, fuͤr eben das zu halten, wofuͤr er ſie haͤlt. Das Geſpenſt wirket auf uns, mehr
durch
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0101"n="87"/><p>Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die<lb/>
Pantomime genommen haͤtte, ſo wuͤrde er auch<lb/>
von einer andern Seite die Unſchicklichkeit em-<lb/>
pfunden haben, ein Geſpenſt vor den Augen<lb/>
einer großen Menge erſcheinen zu laſſen. Alle<lb/>
muͤſſen auf einmal, bey Erblickung deſſelben,<lb/>
Furcht und Entſetzen aͤußern; alle muͤſſen es auf<lb/>
verſchiedene Art aͤußern, wenn der Anblick nicht<lb/>
die froſtige Symmetrie eines Ballets haben ſoll.<lb/>
Nun richte man einmal eine Heerde dumme<lb/>
Statiſten dazu ab; und wenn man ſie auf das<lb/>
gluͤcklichſte abgerichtet hat, ſo bedenke man,<lb/>
wie ſehr dieſer vielfache Ausdruck des nehmli-<lb/>
chen Affekts die Aufmerkſamkeit theilen, und<lb/>
von den Hauptperſonen abziehen muß. Wenn<lb/>
dieſe den rechten Eindruck auf uns machen ſollen,<lb/>ſo muͤſſen wir ſie nicht allein ſehen koͤnnen, ſon-<lb/>
dern es iſt auch gut, wenn wir ſonſt nichts ſehen,<lb/>
als ſie. Beym Shakeſpear iſt es der einzige<lb/>
Hamlet, mit dem ſich das Geſpenſt einlaͤßt; in<lb/>
der Scene, wo die Mutter dabey iſt, wird es<lb/>
von der Mutter weder geſehen noch gehoͤrt. Alle<lb/>
unſere Beobachtung geht alſo auf ihn, und<lb/>
je mehr Merkmale eines von Schauder und<lb/>
Schrecken zerruͤtteten Gemuͤths wir an ihm ent-<lb/>
decken, deſto bereitwilliger ſind wir, die Er-<lb/>ſcheinung, welche dieſe Zerruͤttung in ihm ver-<lb/>
urſacht, fuͤr eben das zu halten, wofuͤr er ſie<lb/>
haͤlt. Das Geſpenſt wirket auf uns, mehr<lb/><fwplace="bottom"type="catch">durch</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[87/0101]
Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die
Pantomime genommen haͤtte, ſo wuͤrde er auch
von einer andern Seite die Unſchicklichkeit em-
pfunden haben, ein Geſpenſt vor den Augen
einer großen Menge erſcheinen zu laſſen. Alle
muͤſſen auf einmal, bey Erblickung deſſelben,
Furcht und Entſetzen aͤußern; alle muͤſſen es auf
verſchiedene Art aͤußern, wenn der Anblick nicht
die froſtige Symmetrie eines Ballets haben ſoll.
Nun richte man einmal eine Heerde dumme
Statiſten dazu ab; und wenn man ſie auf das
gluͤcklichſte abgerichtet hat, ſo bedenke man,
wie ſehr dieſer vielfache Ausdruck des nehmli-
chen Affekts die Aufmerkſamkeit theilen, und
von den Hauptperſonen abziehen muß. Wenn
dieſe den rechten Eindruck auf uns machen ſollen,
ſo muͤſſen wir ſie nicht allein ſehen koͤnnen, ſon-
dern es iſt auch gut, wenn wir ſonſt nichts ſehen,
als ſie. Beym Shakeſpear iſt es der einzige
Hamlet, mit dem ſich das Geſpenſt einlaͤßt; in
der Scene, wo die Mutter dabey iſt, wird es
von der Mutter weder geſehen noch gehoͤrt. Alle
unſere Beobachtung geht alſo auf ihn, und
je mehr Merkmale eines von Schauder und
Schrecken zerruͤtteten Gemuͤths wir an ihm ent-
decken, deſto bereitwilliger ſind wir, die Er-
ſcheinung, welche dieſe Zerruͤttung in ihm ver-
urſacht, fuͤr eben das zu halten, wofuͤr er ſie
haͤlt. Das Geſpenſt wirket auf uns, mehr
durch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/101>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.