und nothwendig mußten diese Verse eine Ver- gleichung enthalten. Phädra, indem sie ab- geht, vergleicht sich sehr poetisch mit einem Rehe, Cato mit einem Felsen, und Cleopatra mit Kin- dern, die so lange weinen, bis sie einschlafen. Der Uebersetzer der Zayre ist der erste, der es gewagt hat, die Gesetze der Natur gegen einen von ihr so entfernten Geschmack zu behaupten. Er hat diesen Gebrauch abgeschaft; er hat es empfun- den, daß die Leidenschaft ihre wahre Sprache füh- ren, und der Poet sich überall verbergen müsse, um uns nur den Helden erkennen zu lassen."
Es sind nicht mehr als nur drey Unwahrheiten in dieser Stelle; und das ist für den Hrn. von Voltaire eben nicht viel. Wahr ist es, daß die Engländer, vom Shakespear an, und vielleicht auch von noch länger her, die Gewohnheit ge- habt, ihre Stücke in ungereimten Versen mit ein Paar gereimten Zeilen zu enden. Aber daß diese gereimten Zeilen nichts als Vergleichungen enthielten, daß sie nothwendig Vergleichungen enthalten müssen, das ist grundfalsch; und ich begreife gar nicht, wie der Herr von Voltaire einem Engländer, von dem er doch glauben konn- te, daß er die tragischen Dichter seines Volkes auch gelesen habe, so etwas unter die Nase sagen können. Zweytens ist es nicht andem, daß Hill in seiner Uebersetzung der Zayre von dieser Gewohn- heit abgegangen. Es ist zwar beynahe nicht glaub-
lich
und nothwendig mußten dieſe Verſe eine Ver- gleichung enthalten. Phaͤdra, indem ſie ab- geht, vergleicht ſich ſehr poetiſch mit einem Rehe, Cato mit einem Felſen, und Cleopatra mit Kin- dern, die ſo lange weinen, bis ſie einſchlafen. Der Ueberſetzer der Zayre iſt der erſte, der es gewagt hat, die Geſetze der Natur gegen einen von ihr ſo entfernten Geſchmack zu behaupten. Er hat dieſen Gebrauch abgeſchaft; er hat es empfun- den, daß die Leidenſchaft ihre wahre Sprache fuͤh- ren, und der Poet ſich uͤberall verbergen muͤſſe, um uns nur den Helden erkennen zu laſſen.„
Es ſind nicht mehr als nur drey Unwahrheiten in dieſer Stelle; und das iſt fuͤr den Hrn. von Voltaire eben nicht viel. Wahr iſt es, daß die Englaͤnder, vom Shakeſpear an, und vielleicht auch von noch laͤnger her, die Gewohnheit ge- habt, ihre Stuͤcke in ungereimten Verſen mit ein Paar gereimten Zeilen zu enden. Aber daß dieſe gereimten Zeilen nichts als Vergleichungen enthielten, daß ſie nothwendig Vergleichungen enthalten muͤſſen, das iſt grundfalſch; und ich begreife gar nicht, wie der Herr von Voltaire einem Englaͤnder, von dem er doch glauben konn- te, daß er die tragiſchen Dichter ſeines Volkes auch geleſen habe, ſo etwas unter die Naſe ſagen koͤnnen. Zweytens iſt es nicht andem, daß Hill in ſeiner Ueberſetzung der Zayre von dieſer Gewohn- heit abgegangen. Es iſt zwar beynahe nicht glaub-
lich
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und nothwendig mußten dieſe Verſe eine Ver-
gleichung enthalten. Phaͤdra, indem ſie ab-
geht, vergleicht ſich ſehr poetiſch mit einem Rehe,
Cato mit einem Felſen, und Cleopatra mit Kin-
dern, die ſo lange weinen, bis ſie einſchlafen.
Der Ueberſetzer der Zayre iſt der erſte, der es
gewagt hat, die Geſetze der Natur gegen einen
von ihr ſo entfernten Geſchmack zu behaupten. Er
hat dieſen Gebrauch abgeſchaft; er hat es empfun-
den, daß die Leidenſchaft ihre wahre Sprache fuͤh-
ren, und der Poet ſich uͤberall verbergen muͤſſe,
um uns nur den Helden erkennen zu laſſen.„
Es ſind nicht mehr als nur drey Unwahrheiten
in dieſer Stelle; und das iſt fuͤr den Hrn. von
Voltaire eben nicht viel. Wahr iſt es, daß die
Englaͤnder, vom Shakeſpear an, und vielleicht
auch von noch laͤnger her, die Gewohnheit ge-
habt, ihre Stuͤcke in ungereimten Verſen mit
ein Paar gereimten Zeilen zu enden. Aber daß
dieſe gereimten Zeilen nichts als Vergleichungen
enthielten, daß ſie nothwendig Vergleichungen
enthalten muͤſſen, das iſt grundfalſch; und ich
begreife gar nicht, wie der Herr von Voltaire
einem Englaͤnder, von dem er doch glauben konn-
te, daß er die tragiſchen Dichter ſeines Volkes
auch geleſen habe, ſo etwas unter die Naſe ſagen
koͤnnen. Zweytens iſt es nicht andem, daß Hill in
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/133>, abgerufen am 21.11.2024.
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