auch wirklich eine -- andere, (*) in der die Be- kehrung der Zayre das Hauptwerk ist, und die sich damit endet, daß der Sultan über seine Liebe sieget, und die christliche Zayre mit aller der Pracht in ihr Vaterland schicket, die ihrer vor- gehabten Erhöhung gemäß ist; der alte Lusignan stirbt vor Freuden. Wer ist begierig, mehr da- von zu wissen? Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragischen Dichters ist dieser, daß er uns kalt läßt; er interessire uns, und mache mit den kleinen mechanischen Regeln, was er will. Die Duime können wohl tadeln, aber den Bogen des Ulysses müssen sie nicht selber spannen wollen. Dieses sage ich darum, weil ich nicht gern zurück, von der mißlungenen Verbesserung auf den Un- grund der Kritik, geschlossen wissen möchte. Duims Tadel ist in vielen Stücken ganz gegrün- det; besonders hat er die Unschicklichkeiten, deren sich Voltaire in Ansehung des Orts schuldig macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genug- sam motivirten Auftreten und Abgehen der Per- sonen, sehr wohl angemerkt. Auch ist ihm die Ungereimtheit der sechsten Scene im dritten Akte nicht entgangen. "Orosmann, sagt er, kömmt, Zayren in die Moschee abzuholen; Zayre wei- gert sich, ohne die geringste Ursache von ihrer Weigerung anzuführen; sie geht ab, und Oros-
auch wirklich eine — andere, (*) in der die Be- kehrung der Zayre das Hauptwerk iſt, und die ſich damit endet, daß der Sultan uͤber ſeine Liebe ſieget, und die chriſtliche Zayre mit aller der Pracht in ihr Vaterland ſchicket, die ihrer vor- gehabten Erhoͤhung gemaͤß iſt; der alte Luſignan ſtirbt vor Freuden. Wer iſt begierig, mehr da- von zu wiſſen? Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragiſchen Dichters iſt dieſer, daß er uns kalt laͤßt; er intereſſire uns, und mache mit den kleinen mechaniſchen Regeln, was er will. Die Duime koͤnnen wohl tadeln, aber den Bogen des Ulyſſes muͤſſen ſie nicht ſelber ſpannen wollen. Dieſes ſage ich darum, weil ich nicht gern zuruͤck, von der mißlungenen Verbeſſerung auf den Un- grund der Kritik, geſchloſſen wiſſen moͤchte. Duims Tadel iſt in vielen Stuͤcken ganz gegruͤn- det; beſonders hat er die Unſchicklichkeiten, deren ſich Voltaire in Anſehung des Orts ſchuldig macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genug- ſam motivirten Auftreten und Abgehen der Per- ſonen, ſehr wohl angemerkt. Auch iſt ihm die Ungereimtheit der ſechſten Scene im dritten Akte nicht entgangen. „Orosmann, ſagt er, koͤmmt, Zayren in die Moſchee abzuholen; Zayre wei- gert ſich, ohne die geringſte Urſache von ihrer Weigerung anzufuͤhren; ſie geht ab, und Oros-
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auch wirklich eine — andere, (*) in der die Be-
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ſich damit endet, daß der Sultan uͤber ſeine Liebe
ſieget, und die chriſtliche Zayre mit aller der
Pracht in ihr Vaterland ſchicket, die ihrer vor-
gehabten Erhoͤhung gemaͤß iſt; der alte Luſignan
ſtirbt vor Freuden. Wer iſt begierig, mehr da-
von zu wiſſen? Der einzige unverzeihliche Fehler
eines tragiſchen Dichters iſt dieſer, daß er uns
kalt laͤßt; er intereſſire uns, und mache mit den
kleinen mechaniſchen Regeln, was er will. Die
Duime koͤnnen wohl tadeln, aber den Bogen des
Ulyſſes muͤſſen ſie nicht ſelber ſpannen wollen.
Dieſes ſage ich darum, weil ich nicht gern zuruͤck,
von der mißlungenen Verbeſſerung auf den Un-
grund der Kritik, geſchloſſen wiſſen moͤchte.
Duims Tadel iſt in vielen Stuͤcken ganz gegruͤn-
det; beſonders hat er die Unſchicklichkeiten, deren
ſich Voltaire in Anſehung des Orts ſchuldig
macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genug-
ſam motivirten Auftreten und Abgehen der Per-
ſonen, ſehr wohl angemerkt. Auch iſt ihm die
Ungereimtheit der ſechſten Scene im dritten Akte
nicht entgangen. „Orosmann, ſagt er, koͤmmt,
Zayren in die Moſchee abzuholen; Zayre wei-
gert ſich, ohne die geringſte Urſache von ihrer
Weigerung anzufuͤhren; ſie geht ab, und Oros-
mann
(*) Zaire, bekeerde Turkinne. Treurſpel. Am-
ſterdam 1745.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/140>, abgerufen am 21.11.2024.
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