damals den Zorn der Königinn durch die ge- ringste Erniedrigung zu besänftigen gesucht, daß er vielmehr auf die lebhafteste und edelste Art mündlich und schriftlich seine Empfindlichkeit darüber ausließ. Er that zu seiner Begnadi- gung auch nicht wieder den ersten Schritt; die Königinn mußte ihn thun.
Aber was geht mich hier die historische Un- wissenheit des Herrn von Voltaire an? Eben so wenig als ihn die historische Unwissenheit des Corneille hätte angehen sollen. Und eigentlich will ich mich auch nur dieser gegen ihn annehmen.
Die ganze Tragödie des Corneille sey ein Ro- man: wenn er rührend ist, wird er dadurch we- niger rührend, weil der Dichter sich wahrer Namen bedienet hat?
Weßwegen wählt der tragische Dichter wahre Namen? Nimmt er seine Charaktere aus diesen Namen; oder nimmt er diese Namen, weil die Charaktere, welche ihnen die Geschichte beylegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zei- gen sich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art, wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten. Oder, mich mit der gewöhnlichen Praxi der
Dich-
damals den Zorn der Koͤniginn durch die ge- ringſte Erniedrigung zu beſaͤnftigen geſucht, daß er vielmehr auf die lebhafteſte und edelſte Art muͤndlich und ſchriftlich ſeine Empfindlichkeit daruͤber ausließ. Er that zu ſeiner Begnadi- gung auch nicht wieder den erſten Schritt; die Koͤniginn mußte ihn thun.
Aber was geht mich hier die hiſtoriſche Un- wiſſenheit des Herrn von Voltaire an? Eben ſo wenig als ihn die hiſtoriſche Unwiſſenheit des Corneille haͤtte angehen ſollen. Und eigentlich will ich mich auch nur dieſer gegen ihn annehmen.
Die ganze Tragoͤdie des Corneille ſey ein Ro- man: wenn er ruͤhrend iſt, wird er dadurch we- niger ruͤhrend, weil der Dichter ſich wahrer Namen bedienet hat?
Weßwegen waͤhlt der tragiſche Dichter wahre Namen? Nimmt er ſeine Charaktere aus dieſen Namen; oder nimmt er dieſe Namen, weil die Charaktere, welche ihnen die Geſchichte beylegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zei- gen ſich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art, wie die meiſten Trauerſpiele vielleicht entſtanden ſind, ſondern wie ſie eigentlich entſtehen ſollten. Oder, mich mit der gewoͤhnlichen Praxi der
Dich-
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damals den Zorn der Koͤniginn durch die ge-
ringſte Erniedrigung zu beſaͤnftigen geſucht, daß
er vielmehr auf die lebhafteſte und edelſte Art
muͤndlich und ſchriftlich ſeine Empfindlichkeit
daruͤber ausließ. Er that zu ſeiner Begnadi-
gung auch nicht wieder den erſten Schritt; die
Koͤniginn mußte ihn thun.
Aber was geht mich hier die hiſtoriſche Un-
wiſſenheit des Herrn von Voltaire an? Eben ſo
wenig als ihn die hiſtoriſche Unwiſſenheit des
Corneille haͤtte angehen ſollen. Und eigentlich
will ich mich auch nur dieſer gegen ihn annehmen.
Die ganze Tragoͤdie des Corneille ſey ein Ro-
man: wenn er ruͤhrend iſt, wird er dadurch we-
niger ruͤhrend, weil der Dichter ſich wahrer
Namen bedienet hat?
Weßwegen waͤhlt der tragiſche Dichter wahre
Namen? Nimmt er ſeine Charaktere aus dieſen
Namen; oder nimmt er dieſe Namen, weil die
Charaktere, welche ihnen die Geſchichte beylegt,
mit den Charakteren, die er in Handlung zu zei-
gen ſich vorgenommen, mehr oder weniger
Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art,
wie die meiſten Trauerſpiele vielleicht entſtanden
ſind, ſondern wie ſie eigentlich entſtehen ſollten.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/197>, abgerufen am 24.11.2024.
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