seltnen Sieg über einen Großtürken erhalten können.
Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Er- zehlung des Marmontel sagen soll; nicht, daß sie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen Kenntnissen der großen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Lächerlichen, ausgeführet, und mit der Eleganz und Anmuth geschrieben wäre, welche diesem Verfasser so eigen sind; von dieser Seite ist sie vortrefflich, allerliebst. Aber es soll eine moralische Erzehlung seyn, und ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moralische sitzt. Allerdings ist sie nicht so schlüpfrig, so anstößig, als eine Erzehlung des La Fontaine oder Grecourt: aber ist sie darum moralisch, weil sie nicht ganz unmoralisch ist?
Ein Sultan, der in dem Schooße der Wol- lüste gähnet, dem sie der alltägliche und durch nichts erschwerte Genuß unschmackhaft und eckel gemacht hat, der seine schlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Besonderes, wieder gespannet und gereitzet wissen will, um den sich die feinste Sinnlichkeit, die raffinirteste Zärt- lichkeit umsonst bewirbt, vergebens erschöpft: dieser kranke Wollüstling ist der leidende Held in der Erzehlung. Ich sage, der leidende: der Lecker hat sich mit zu viel Süßigkeiten den Ma- gen verdorben; nichts will ihm mehr schmecken; bis er endlich auf etwas verfällt, was jedem ge-
sun-
ſeltnen Sieg uͤber einen Großtuͤrken erhalten koͤnnen.
Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Er- zehlung des Marmontel ſagen ſoll; nicht, daß ſie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen Kenntniſſen der großen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Laͤcherlichen, ausgefuͤhret, und mit der Eleganz und Anmuth geſchrieben waͤre, welche dieſem Verfaſſer ſo eigen ſind; von dieſer Seite iſt ſie vortrefflich, allerliebſt. Aber es ſoll eine moraliſche Erzehlung ſeyn, und ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moraliſche ſitzt. Allerdings iſt ſie nicht ſo ſchluͤpfrig, ſo anſtoͤßig, als eine Erzehlung des La Fontaine oder Grecourt: aber iſt ſie darum moraliſch, weil ſie nicht ganz unmoraliſch iſt?
Ein Sultan, der in dem Schooße der Wol- luͤſte gaͤhnet, dem ſie der alltaͤgliche und durch nichts erſchwerte Genuß unſchmackhaft und eckel gemacht hat, der ſeine ſchlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Beſonderes, wieder geſpannet und gereitzet wiſſen will, um den ſich die feinſte Sinnlichkeit, die raffinirteſte Zaͤrt- lichkeit umſonſt bewirbt, vergebens erſchoͤpft: dieſer kranke Wolluͤſtling iſt der leidende Held in der Erzehlung. Ich ſage, der leidende: der Lecker hat ſich mit zu viel Suͤßigkeiten den Ma- gen verdorben; nichts will ihm mehr ſchmecken; bis er endlich auf etwas verfaͤllt, was jedem ge-
ſun-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0272"n="258"/>ſeltnen Sieg uͤber einen Großtuͤrken erhalten<lb/>
koͤnnen.</p><lb/><p>Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Er-<lb/>
zehlung des Marmontel ſagen ſoll; nicht, daß<lb/>ſie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen<lb/>
den feinen Kenntniſſen der großen Welt, ihrer<lb/>
Eitelkeit und ihres Laͤcherlichen, ausgefuͤhret,<lb/>
und mit der Eleganz und Anmuth geſchrieben<lb/>
waͤre, welche dieſem Verfaſſer ſo eigen ſind;<lb/>
von dieſer Seite iſt ſie vortrefflich, allerliebſt.<lb/>
Aber es ſoll eine moraliſche Erzehlung ſeyn, und<lb/>
ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moraliſche<lb/>ſitzt. Allerdings iſt ſie nicht ſo ſchluͤpfrig, ſo<lb/>
anſtoͤßig, als eine Erzehlung des La Fontaine<lb/>
oder Grecourt: aber iſt ſie darum moraliſch,<lb/>
weil ſie nicht ganz unmoraliſch iſt?</p><lb/><p>Ein Sultan, der in dem Schooße der Wol-<lb/>
luͤſte gaͤhnet, dem ſie der alltaͤgliche und durch<lb/>
nichts erſchwerte Genuß unſchmackhaft und eckel<lb/>
gemacht hat, der ſeine ſchlaffen Nerven durch<lb/>
etwas ganz Neues, ganz Beſonderes, wieder<lb/>
geſpannet und gereitzet wiſſen will, um den ſich<lb/>
die feinſte Sinnlichkeit, die raffinirteſte Zaͤrt-<lb/>
lichkeit umſonſt bewirbt, vergebens erſchoͤpft:<lb/>
dieſer kranke Wolluͤſtling iſt der leidende Held in<lb/>
der Erzehlung. Ich ſage, der leidende: der<lb/>
Lecker hat ſich mit zu viel Suͤßigkeiten den Ma-<lb/>
gen verdorben; nichts will ihm mehr ſchmecken;<lb/>
bis er endlich auf etwas verfaͤllt, was jedem ge-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſun-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[258/0272]
ſeltnen Sieg uͤber einen Großtuͤrken erhalten
koͤnnen.
Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Er-
zehlung des Marmontel ſagen ſoll; nicht, daß
ſie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen
den feinen Kenntniſſen der großen Welt, ihrer
Eitelkeit und ihres Laͤcherlichen, ausgefuͤhret,
und mit der Eleganz und Anmuth geſchrieben
waͤre, welche dieſem Verfaſſer ſo eigen ſind;
von dieſer Seite iſt ſie vortrefflich, allerliebſt.
Aber es ſoll eine moraliſche Erzehlung ſeyn, und
ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moraliſche
ſitzt. Allerdings iſt ſie nicht ſo ſchluͤpfrig, ſo
anſtoͤßig, als eine Erzehlung des La Fontaine
oder Grecourt: aber iſt ſie darum moraliſch,
weil ſie nicht ganz unmoraliſch iſt?
Ein Sultan, der in dem Schooße der Wol-
luͤſte gaͤhnet, dem ſie der alltaͤgliche und durch
nichts erſchwerte Genuß unſchmackhaft und eckel
gemacht hat, der ſeine ſchlaffen Nerven durch
etwas ganz Neues, ganz Beſonderes, wieder
geſpannet und gereitzet wiſſen will, um den ſich
die feinſte Sinnlichkeit, die raffinirteſte Zaͤrt-
lichkeit umſonſt bewirbt, vergebens erſchoͤpft:
dieſer kranke Wolluͤſtling iſt der leidende Held in
der Erzehlung. Ich ſage, der leidende: der
Lecker hat ſich mit zu viel Suͤßigkeiten den Ma-
gen verdorben; nichts will ihm mehr ſchmecken;
bis er endlich auf etwas verfaͤllt, was jedem ge-
ſun-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/272>, abgerufen am 01.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.