Sultan mehr auf die Probe gestellt, als seine Schwäche gemißbraucht zu haben. Denn kaum hat sie den Sultan dahin gebracht, wo sie ihn haben will, kaum erkennt sie, daß seine Liebe ohne Grenzen ist, als sie gleichsam die Larve ab- nimmt, und ihm eine Erklärung thut, die zwar ein wenig unvorbereitet kömmt, aber ein Licht auf ihre vorige Aufführung wirft, durch wel- ches wir ganz mit ihr ausgesöhnet werden. "Nun kenn ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre geheimste Triebfedern, er- forscht; es ist eine edle, große Seele, ganz den Empfindungen der Ehre offen. So viel Tu- gend entzückt mich! Aber lerne nun auch, mich kennen. Ich liebe dich, Solimann; ich muß dich wohl lieben! Nimm alle deine Rechte, nimm meine Freyheit zurück; sey mein Sultan, mein Held, mein Gebiether! Ich würde dir sonst sehr eitel, sehr ungerecht scheinen müssen. Nein, thue nichts, als was dich dein Gesetz zu thun berechtiget. Es giebt Vorurtheile, denen man Achtung schuldig ist. Ich verlange einen Liebhaber, der meinetwegen nicht erröthen darf; sieh hier in Roxelanen -- nichts, als deine un- terthänige Sklavinn. (*)" So sagt sie, und
Tant
uns
(*)Sultan, j'ai penetre ton ame; J'en ai demele les ressorts. Elle est grande, elle est fiere, & la gloire l'enflame,
M m 2
Sultan mehr auf die Probe geſtellt, als ſeine Schwaͤche gemißbraucht zu haben. Denn kaum hat ſie den Sultan dahin gebracht, wo ſie ihn haben will, kaum erkennt ſie, daß ſeine Liebe ohne Grenzen iſt, als ſie gleichſam die Larve ab- nimmt, und ihm eine Erklaͤrung thut, die zwar ein wenig unvorbereitet koͤmmt, aber ein Licht auf ihre vorige Auffuͤhrung wirft, durch wel- ches wir ganz mit ihr ausgeſoͤhnet werden. 〟Nun kenn ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre geheimſte Triebfedern, er- forſcht; es iſt eine edle, große Seele, ganz den Empfindungen der Ehre offen. So viel Tu- gend entzuͤckt mich! Aber lerne nun auch, mich kennen. Ich liebe dich, Solimann; ich muß dich wohl lieben! Nimm alle deine Rechte, nimm meine Freyheit zuruͤck; ſey mein Sultan, mein Held, mein Gebiether! Ich wuͤrde dir ſonſt ſehr eitel, ſehr ungerecht ſcheinen muͤſſen. Nein, thue nichts, als was dich dein Geſetz zu thun berechtiget. Es giebt Vorurtheile, denen man Achtung ſchuldig iſt. Ich verlange einen Liebhaber, der meinetwegen nicht erroͤthen darf; ſieh hier in Roxelanen — nichts, als deine un- terthaͤnige Sklavinn. (*)〟 So ſagt ſie, und
Tant
uns
(*)Sultan, j’ai pénetré ton ame; J’en ai demêlé les reſſorts. Elle eſt grande, elle eſt fiere, & la gloire l’enflame,
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Sultan mehr auf die Probe geſtellt, als ſeine
Schwaͤche gemißbraucht zu haben. Denn kaum
hat ſie den Sultan dahin gebracht, wo ſie ihn
haben will, kaum erkennt ſie, daß ſeine Liebe
ohne Grenzen iſt, als ſie gleichſam die Larve ab-
nimmt, und ihm eine Erklaͤrung thut, die zwar
ein wenig unvorbereitet koͤmmt, aber ein Licht
auf ihre vorige Auffuͤhrung wirft, durch wel-
ches wir ganz mit ihr ausgeſoͤhnet werden.
〟Nun kenn ich dich, Sultan; ich habe deine
Seele, bis in ihre geheimſte Triebfedern, er-
forſcht; es iſt eine edle, große Seele, ganz den
Empfindungen der Ehre offen. So viel Tu-
gend entzuͤckt mich! Aber lerne nun auch, mich
kennen. Ich liebe dich, Solimann; ich muß
dich wohl lieben! Nimm alle deine Rechte,
nimm meine Freyheit zuruͤck; ſey mein Sultan,
mein Held, mein Gebiether! Ich wuͤrde dir
ſonſt ſehr eitel, ſehr ungerecht ſcheinen muͤſſen.
Nein, thue nichts, als was dich dein Geſetz zu
thun berechtiget. Es giebt Vorurtheile, denen
man Achtung ſchuldig iſt. Ich verlange einen
Liebhaber, der meinetwegen nicht erroͤthen darf;
ſieh hier in Roxelanen — nichts, als deine un-
terthaͤnige Sklavinn. (*)〟 So ſagt ſie, und
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(*) Sultan, j’ai pénetré ton ame;
J’en ai demêlé les reſſorts.
Elle eſt grande, elle eſt fiere, & la gloire
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/289>, abgerufen am 22.11.2024.
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