Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Als Litterator hat er zu viel Achtung für die
Simplicität der alten griechischen Sitten, und
für das Costume bezeigt, mit welchem wir sie bey
dem Homer und Euripides geschildert finden,
das aber allerdings um etwas, ich will nicht sa-
gen veredelt, sondern unserm Costume näher
gebracht werden muß, wenn es der Rührung
im Trauerspiele nicht mehr schädlich, als zuträg-
lich seyn soll. Auch hat er zugeflissendlich schöne
Stellen aus den Alten nachzuahmen gesucht,
ohne zu unterscheiden, aus was für einer Art
von Werken er sie entlehnt, und in was für eine
Art von Werken er sie überträgt. Nestor ist in
der Epopee ein gesprächiger freundlicher Alte;
aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der
Tragödie ein alter eckler Saalbader. Wenn
Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides
hätte folgen wollen: so würde uns der Litterator
vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er
hätte es sodann für seine Schuldigkeit geachtet,
alle die kleinen Fragmente, die uns von dem
Kresphontes übrig sind, zu nutzen, und seinem
Werke getreulich einzuflechten. (*) Wo er also
geglaubt hätte, daß sie sich hinpaßten, hätte er
sie als Pfähle aufgerichtet, nach welchen sich der

qua,
Weg
(*) Non essendo dunque stato mio pensiero di
seguir la Tragedia d'Euripide, non ho cer-
cato per consequenza di porre nella mia
que' sentimenti di essa, che son rimasti

Als Litterator hat er zu viel Achtung fuͤr die
Simplicitaͤt der alten griechiſchen Sitten, und
fuͤr das Coſtume bezeigt, mit welchem wir ſie bey
dem Homer und Euripides geſchildert finden,
das aber allerdings um etwas, ich will nicht ſa-
gen veredelt, ſondern unſerm Coſtume naͤher
gebracht werden muß, wenn es der Ruͤhrung
im Trauerſpiele nicht mehr ſchaͤdlich, als zutraͤg-
lich ſeyn ſoll. Auch hat er zugefliſſendlich ſchoͤne
Stellen aus den Alten nachzuahmen geſucht,
ohne zu unterſcheiden, aus was fuͤr einer Art
von Werken er ſie entlehnt, und in was fuͤr eine
Art von Werken er ſie uͤbertraͤgt. Neſtor iſt in
der Epopee ein geſpraͤchiger freundlicher Alte;
aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der
Tragoͤdie ein alter eckler Saalbader. Wenn
Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides
haͤtte folgen wollen: ſo wuͤrde uns der Litterator
vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er
haͤtte es ſodann fuͤr ſeine Schuldigkeit geachtet,
alle die kleinen Fragmente, die uns von dem
Kreſphontes uͤbrig ſind, zu nutzen, und ſeinem
Werke getreulich einzuflechten. (*) Wo er alſo
geglaubt haͤtte, daß ſie ſich hinpaßten, haͤtte er
ſie als Pfaͤhle aufgerichtet, nach welchen ſich der

qua,
Weg
(*) Non eſſendo dunque ſtato mio penſiero di
ſeguir la Tragedia d’Euripide, non ho cer-
cato per conſequenza di porre nella mia
que’ ſentimenti di eſſa, che ſon rimaſti

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0346" n="332"/>
        <p>Als Litterator hat er zu viel Achtung fu&#x0364;r die<lb/>
Simplicita&#x0364;t der alten griechi&#x017F;chen Sitten, und<lb/>
fu&#x0364;r das Co&#x017F;tume bezeigt, mit welchem wir &#x017F;ie bey<lb/>
dem Homer und Euripides ge&#x017F;childert finden,<lb/>
das aber allerdings um etwas, ich will nicht &#x017F;a-<lb/>
gen veredelt, &#x017F;ondern un&#x017F;erm Co&#x017F;tume na&#x0364;her<lb/>
gebracht werden muß, wenn es der Ru&#x0364;hrung<lb/>
im Trauer&#x017F;piele nicht mehr &#x017F;cha&#x0364;dlich, als zutra&#x0364;g-<lb/>
lich &#x017F;eyn &#x017F;oll. Auch hat er zugefli&#x017F;&#x017F;endlich &#x017F;cho&#x0364;ne<lb/>
Stellen aus den Alten nachzuahmen ge&#x017F;ucht,<lb/>
ohne zu unter&#x017F;cheiden, aus was fu&#x0364;r einer Art<lb/>
von Werken er &#x017F;ie entlehnt, und in was fu&#x0364;r eine<lb/>
Art von Werken er &#x017F;ie u&#x0364;bertra&#x0364;gt. Ne&#x017F;tor i&#x017F;t in<lb/>
der Epopee ein ge&#x017F;pra&#x0364;chiger freundlicher Alte;<lb/>
aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der<lb/>
Trago&#x0364;die ein alter eckler Saalbader. Wenn<lb/>
Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides<lb/>
ha&#x0364;tte folgen wollen: &#x017F;o wu&#x0364;rde uns der Litterator<lb/>
vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er<lb/>
ha&#x0364;tte es &#x017F;odann fu&#x0364;r &#x017F;eine Schuldigkeit geachtet,<lb/>
alle die kleinen Fragmente, die uns von dem<lb/>
Kre&#x017F;phontes u&#x0364;brig &#x017F;ind, zu nutzen, und &#x017F;einem<lb/>
Werke getreulich einzuflechten. <note xml:id="seg2pn_6_1" next="#seg2pn_6_2" place="foot" n="(*)"><cit><quote><hi rendition="#aq">Non e&#x017F;&#x017F;endo dunque &#x017F;tato mio pen&#x017F;iero di<lb/>
&#x017F;eguir la Tragedia d&#x2019;Euripide, non ho cer-<lb/>
cato per con&#x017F;equenza di porre nella mia<lb/>
que&#x2019; &#x017F;entimenti di e&#x017F;&#x017F;a, che &#x017F;on rima&#x017F;ti</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">qua,</hi></fw></quote></cit></note> Wo er al&#x017F;o<lb/>
geglaubt ha&#x0364;tte, daß &#x017F;ie &#x017F;ich hinpaßten, ha&#x0364;tte er<lb/>
&#x017F;ie als Pfa&#x0364;hle aufgerichtet, nach welchen &#x017F;ich der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Weg</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[332/0346] Als Litterator hat er zu viel Achtung fuͤr die Simplicitaͤt der alten griechiſchen Sitten, und fuͤr das Coſtume bezeigt, mit welchem wir ſie bey dem Homer und Euripides geſchildert finden, das aber allerdings um etwas, ich will nicht ſa- gen veredelt, ſondern unſerm Coſtume naͤher gebracht werden muß, wenn es der Ruͤhrung im Trauerſpiele nicht mehr ſchaͤdlich, als zutraͤg- lich ſeyn ſoll. Auch hat er zugefliſſendlich ſchoͤne Stellen aus den Alten nachzuahmen geſucht, ohne zu unterſcheiden, aus was fuͤr einer Art von Werken er ſie entlehnt, und in was fuͤr eine Art von Werken er ſie uͤbertraͤgt. Neſtor iſt in der Epopee ein geſpraͤchiger freundlicher Alte; aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der Tragoͤdie ein alter eckler Saalbader. Wenn Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides haͤtte folgen wollen: ſo wuͤrde uns der Litterator vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er haͤtte es ſodann fuͤr ſeine Schuldigkeit geachtet, alle die kleinen Fragmente, die uns von dem Kreſphontes uͤbrig ſind, zu nutzen, und ſeinem Werke getreulich einzuflechten. (*) Wo er alſo geglaubt haͤtte, daß ſie ſich hinpaßten, haͤtte er ſie als Pfaͤhle aufgerichtet, nach welchen ſich der Weg (*) Non eſſendo dunque ſtato mio penſiero di ſeguir la Tragedia d’Euripide, non ho cer- cato per conſequenza di porre nella mia que’ ſentimenti di eſſa, che ſon rimaſti qua,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/346
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/346>, abgerufen am 01.11.2024.