mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstünde. Nicht genug also, daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglück nicht verdiene, ob er es sich schon durch irgend eine Schwachheit zugezogen: seine gequälte Unschuld, oder viel- mehr seine zu hart heimgesuchte Schuld, sey für uns verlohren, sey nicht vermögend, unser Mit- leid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit sähen, daß uns sein Leiden auch treffen könne. Diese Möglichkeit aber finde sich alsdenn, und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit er- wachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu seyn pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden ge- dacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleich- heit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen eben so ähnlich werden könne, als wir ihm zu seyn uns selbst fühlen: und diese Furcht sey es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe.
So
quaecunque simulac in aliorum potestatem venerunt, vel ventura sunt, miseranda sunt. Es muß schlechtweg heissen, quaecun- que aliis evenerunt, vel eventura sunt.
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mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns ſelbſt bevorſtünde. Nicht genug alſo, daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben ſollen, ſein Unglück nicht verdiene, ob er es ſich ſchon durch irgend eine Schwachheit zugezogen: ſeine gequälte Unſchuld, oder viel- mehr ſeine zu hart heimgeſuchte Schuld, ſey für uns verlohren, ſey nicht vermögend, unſer Mit- leid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit ſähen, daß uns ſein Leiden auch treffen könne. Dieſe Möglichkeit aber finde ſich alsdenn, und könne zu einer großen Wahrſcheinlichkeit er- wachſen, wenn ihn der Dichter nicht ſchlimmer mache, als wir gemeiniglich zu ſeyn pflegen, wenn er ihn vollkommen ſo denken und handeln laſſe, als wir in ſeinen Umſtänden würden ge- dacht und gehandelt haben, oder wenigſtens glauben, daß wir hätten denken und handeln müſſen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne ſchildere. Aus dieſer Gleich- heit entſtehe die Furcht, daß unſer Schickſal gar leicht dem ſeinigen eben ſo ähnlich werden könne, als wir ihm zu ſeyn uns ſelbſt fühlen: und dieſe Furcht ſey es, welche das Mitleid gleichſam zur Reife bringe.
So
quæcunque ſimulac in aliorum poteſtatem venerunt, vel ventura ſunt, miſeranda ſunt. Es muß ſchlechtweg heiſſen, quæcun- que aliis evenerunt, vel eventura ſunt.
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mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn
es uns ſelbſt bevorſtünde. Nicht genug alſo,
daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden
haben ſollen, ſein Unglück nicht verdiene, ob
er es ſich ſchon durch irgend eine Schwachheit
zugezogen: ſeine gequälte Unſchuld, oder viel-
mehr ſeine zu hart heimgeſuchte Schuld, ſey für
uns verlohren, ſey nicht vermögend, unſer Mit-
leid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit
ſähen, daß uns ſein Leiden auch treffen könne.
Dieſe Möglichkeit aber finde ſich alsdenn, und
könne zu einer großen Wahrſcheinlichkeit er-
wachſen, wenn ihn der Dichter nicht ſchlimmer
mache, als wir gemeiniglich zu ſeyn pflegen,
wenn er ihn vollkommen ſo denken und handeln
laſſe, als wir in ſeinen Umſtänden würden ge-
dacht und gehandelt haben, oder wenigſtens
glauben, daß wir hätten denken und handeln
müſſen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem
Schrot und Korne ſchildere. Aus dieſer Gleich-
heit entſtehe die Furcht, daß unſer Schickſal
gar leicht dem ſeinigen eben ſo ähnlich werden
könne, als wir ihm zu ſeyn uns ſelbſt fühlen:
und dieſe Furcht ſey es, welche das Mitleid
gleichſam zur Reife bringe.
So
(*)
(*) quæcunque ſimulac in aliorum poteſtatem
venerunt, vel ventura ſunt, miſeranda
ſunt. Es muß ſchlechtweg heiſſen, quæcun-
que aliis evenerunt, vel eventura ſunt.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/187>, abgerufen am 21.11.2024.
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